Sandor Marai
ich dir nehmen. Sei mir nicht böse. Auch die
Rettungsgesellschaft ist nachts wach und jeden Augenblick bereit, auszuziehen
und zu helfen, wenn Furchtbares geschehen ist.
Als ich Anna sterben ließ und
feststellte, daß diese Frau, Anna Fazekas, die ich liebe, mit der ich acht
Jahre meines Lebens Leib an Leib, Seele an Seele verbracht habe – aber immer
›an‹, weißt du! –, gestorben ist, hatte ich das Gefühl, daß auch für mich
alles zu Ende sei. Ich stand dort, in der Hand die Spritze, ich rollte den Hemdärmel
hoch, reinigte bereits die Hautfläche mit der in Äther getauchten Watte, denn
der Arzt bleibt Arzt bis zum letzten Augenblick – ja, siehst du, wie lächerlich
–, ich war zu sterben bereit und achtete doch darauf, mir die tödliche Spritze
vorschriftsmäßig zu setzen und mir dabei keine Blutvergiftung zuzuziehen! Nun –
als ich da so stand, die Spritze in der Hand, erkannte ich plötzlich, daß ich
dies noch nicht tun dürfe. Denke nicht, daß ich vor dem Tod zurückschreckte.
Ich habe keine Angst mehr – vorsichtiger ausgedrückt: Ich habe keine so große
Angst mehr. Ab und zu bin ich sogar neugierig. Aber – ich komme ab von dem, was
ich sagen möchte. Siehst du, wenn ich das am hellen Tage erzählt hätte, würdest
du schon mit dem Bleistift geklopft und gesagt haben: ›Bitte bei der Sache
zu bleiben.‹ Darum sage ich nun: Ich brauche eine Antwort! Und diese Antwort
wird einem Urteil gleichkommen. Du, der
Richter, wirst mir diese Antwort geben!«
»Hör zu«, sagt Kömüves trocken, und
jede Silbe ist scharf betont wie die Worte, die er im Verhandlungssaal spricht.
»Noch immer weiß ich nicht, was dich zu mir geführt hat. Mitternacht ist vorüber
– ich gestehe, daß es nicht meine Gewohnheit ist – niemals und in keinem Falle,
mit niemandem. Wir haben uns lange nicht gesehen, doch schließlich bist du
mein Freund, das heißt: mein Jugendfreund. Du sagst, du wolltest eine Antwort,
die zugleich auch Urteil sein wird! Ein Urteil ist eine große und heilige
Sache, mein Freund. Das Gericht ist etwas Erhabenes, wir Menschen – der
Richter, die Beschuldigten, wir alle – sind bloß Werkzeuge Gottes. Das Urteil
fällt ein anderer.«
Er
verstummt, seine Stimme hat hart geklungen im kalten Raum. Mit gesenktem Kopf
hört ihm der Arzt zu. Und Christoph fährt fort: »Wenn du die Hilfe eines
Freundes brauchst, ich laufe dir nicht weg – ich höre dich an. Nimm dich
zusammen, mein Alter. Was immer vorgefallen ist, wir bleiben Menschen,
anständige, christliche Menschen. Ich meine dich einigermaßen zu kennen. Ich
kann dir darum das Grauenhafte, was du gesagt hast, kaum glauben. Wenn es aber
wahr ist, dann kann auch ich dir nicht helfen. Niemals, weder heute noch
morgen. Wenn ich dir aber mit menschlichem Mitgefühl und meinem Rat beistehen
kann ... Wir sind Menschen. Das ist aber kein
Entschuldigungsgrund«, schließt er vorsichtig.
Der Arzt
rückt hartnäckig und unerbittlich heran und sagt mit drängender Stimme: »Du
wirst mir antworten müssen! Du fragst, warum eben du? Ich werde es dir, wie
alles andere, schon sagen.«
Der Richter weiß, daß er diesen Mann
hier anhören wird. Vielleicht ist es ein Wahnsinniger, vielleicht ein
Verbrecher, vielleicht ein Gaukler. Er empfindet weder Mitleid noch Verachtung
für den späten Besucher – viel eher: Neugierde. Verwundert merkt er, daß er
sich das Benehmen und die seltsamen Worte des anderen gefallen läßt und daß der
Mann mehr ist für ihn als nur ein Schulgenosse aus früheren Tagen.
»Ja – es ist mir völlig unmöglich,
zu sterben oder weiterzuleben. Denn sieh, das Geständnis bedeutet lange nicht
alles. Ich brauche die Antwort!«
Nun steht er auf und betrachtet
lange das Bild »Christophs des Ersten«. »Dieses Gesicht«, sagt er dann
plötzlich, »ist noch von anderer Art, wohl sind es deine Züge. Du hast diese
Nase, auch diese Augen leben in dir fort. Nur der Konflikt ist in diesem
Gesicht anders geartet. Damals war alles leichter.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich hätte
nie gedacht, daß man ohne Antwort nicht existieren kann – nicht leben und nicht
sterben.« – Nun stellt er sich vor den
Schreibtisch und blickt auf Christoph herab. »Du mußt mir erlauben, dir
jetzt alles zu erzählen. Sicher ahnst du doch schon, daß zwischen uns von anderem
die Rede sein wird als von der Flucht eines Erschrockenen. Ja – es ist ein
wenig auch von dir die Rede.« Unerwartet und in seltsam vertraulichem Ton
fragt er plötzlich:
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