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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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nach fünf starb er.‹
    Die Einzelheiten haben ja eigentlich
keinen Sinn, aber wir belasten uns dennoch damit. Wir klammern uns an die
Brocken der wirklichen Welt, wir haben einige substantielle, greifbare
Stützpunkte nötig, sonst verlieren wir das Gleichgewicht. So ist es.
    Wir essen
still, und nach dem Kaffee gehe ich in die Ordination. Für drei Uhr hat sich
ein Patient angesagt, ein sonst sehr verständiger vierzigjähriger Mann,
Ministerialbeamter, er kann seine Affekte nicht abreagieren, was er sagt, ist
vernünftig, nur ist es, als spräche er im Traum, schleppend, langsam, als
redete er in Hypnose. Ich stehe im Ordinationszimmer und blättere in einer
wissenschaftlichen Zeitschrift, da merke ich plötzlich, daß meine Finger mechanisch
nach etwas suchen ... Ach ja, gewiß suche ich die Zündholzschachtel. Doch nein,
die habe ich ja in der Hand. Ich zünde die Zigarre an. Das Gefühl, daß es mir
an etwas mangelt, ist störend, wird immer stärker. Vielleicht habe ich etwas
vergessen, ja – es ist gewiß im Nebenzimmer geblieben. Ich gehe hinüber, das
Mädchen hat den Tisch schon abgeräumt, das Speisezimmer wird eben ein wenig
gelüftet, ich trete zum Fenster und schließe es. Was wollte ich doch? Es fällt
mir nicht ein. Ich kehre rauchend in die Ordination zurück, stelle mich wieder
an den Schreibtisch, starre zerstreut auf die Gegenstände, die Akten, das
Hörrohr, den Blutdruckmesser, das Mikroskop, den Hammer. Im Glasschrank liegen
Scheren, Pinzetten, Messer, Pinsel, im Medikamentenkasten Spritzen, Ampullen
mit Morphium, Insulin, Silbernitrat, Fläschchen mit Jod, Perubalsam, Pflaster,
Binden, es ist doch alles wie seit fünf Jahren an seinem Platz.
    Auch ich,
ja ... Ich bin auch an meinem Platz in meinem Sprechzimmer, in meiner Wohnung.
Einige Zimmer entfernt erwartet mich Anna, auf der Bank wird mein Geld gehütet,
nicht viel, doch kann in diesem Jahr schon nichts Besonderes mehr passieren,
vielleicht auch im nächsten nicht. Und wer denkt an später? Und weil mich
alles in tadelloser Ordnung umgibt – Anna betreut mein Ordinationszimmer, ich
sehe überall die Spur ihrer Hände, sie hält meine Akten und Geräte in Ordnung –, so ist es
tatsächlich erstaunlich, daß ich noch immer nach etwas suche, daß es an etwas
fehlt ... Aber nein, es kann doch an nichts fehlen! Ich habe mein Mittagsmahl
gehabt, gut und reichlich gegessen, der Duft der Zigarre verschmilzt mir mit
dem Aroma des Kaffees ... Ja, ich fühle mich so leicht, als schwindelte es
mich. Habe ich denn etwas vergessen? Ich schaue die Notizen auf dem Kalender
durch. Um drei Uhr dieser Ministerialrat, dann der schlaflose General, dann
die Witwe des Richters, die immer beteuert, nicht schlucken zu können,
inzwischen aber reichlich an Gewicht zugenommen hat, dann der entlassene
Staatsbahnschaffner, der nach zwanzigjähriger musterhafter Dienstzeit seinen
Vorstand mitten in einer scherzhaften Plauderei ganz grundlos geohrfeigt hat.
Ja, es ist doch alles ›in Ordnung‹. Was fehlt denn noch? Was habe ich
unterlassen, wen habe ich vergessen? Warum diese Unruhe, die mit jedem
Augenblick wächst?
    Ich öffne
die Tür und rufe leise ins Nebenzimmer: ›Anna ...‹ Keine Antwort. Ich gehe
vorsichtig an ihre Tür und blicke durch den Türspalt – sie liegt auf dem
Diwan, mit dem grünen Tuch zugedeckt – sie schläft ... Sie ist müde ... Ich
öffne behutsam die Tür und gehe auf den Fußspitzen durch die Zimmer. Alles ist
auf seinem Platz. Ich richte die Zeiger der Standuhr, sie geht drei Minuten
nach. In diesem Augenblick ... Ach, ich kann es nicht begründen, warum, ich kann nur sagen, wie es war, auch wenn es
unglaubwürdig klingt ... In diesem Augenblick denke ich: All das hat keinen
Sinn! Ich blicke mich um, alles kommt mir so bekannt vor, alles ist so
vollkommen auf seinem Platz, im Raum und in der Zeit, das hier ist meine
Wohnung, an der Tür steht mein Name, und meine Adresse steht im Telefonbuch,
das sind meine Möbel, drinnen im Zimmer ruht meine Anna ... Nur eben hat all
das zusammen überhaupt keinen Sinn. Ich kann es nicht erklären. Ich verstehe es
auch selbst nicht. Was für einen Sinn soll denn alles haben? Muß es denn
überhaupt einen haben? Dies alles eben ist die Wirklichkeit, ja ... Was aber
ist geschehen? Ich trete ins Vorzimmer, mein Mantel hängt auf dem Haken, wie
das Mädchen ihn hingehängt hat, an der Wand die Ansicht von Oxford, ein alter
Stich, darunter ein Wetterhäuschen, ein Herr mit Regenschirm, eine Dame

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