Sandor Marai
mit
Sonnenschirm. Jetzt steht eben der Herr vor der Türe des Zauberhüttchens. Ja,
es regnet noch immer. Ich gehe zurück und möchte Anna wecken; was aber kann
ich ihr sagen? Ich fühle, man müßte etwas in Ordnung bringen, bevor meine
Kranken kommen ... So kann man doch nicht arbeiten, so kann man nicht heilen,
so kann man nicht einmal leben. Leben? Ich grinse verärgert. Das wäre denn
doch eine Übertreibung! Ich setze mich ins Sprechzimmer. So wird es nicht
gehen, denke ich. Man muß doch schnell noch etwas in Ordnung bringen.
Vielleicht müßte man die Möbel umstellen,
vielleicht wäre es gut, für einige Tage zu verreisen. Vielleicht wäre es sogar
klüger, einen anderen Beruf zu ergreifen. Vielleicht müßte ich mit Anna
sprechen, aber worüber denn soll ich mit Anna sprechen? Es gibt doch gar
nichts, was ich mit ihr nicht schon besprochen hätte. Ich schaue auf die Lampe,
zünde sie an – vielleicht fehlt Licht. So – jetzt brennt die Lampe, und alles
wird sofort einen Sinn haben. Aber die Lampe leuchtet vergebens ... Jetzt
springe ich wieder auf und presse beide Hände aufs Herz. Ich glaube, in diesem
Augenblick bin ich außerordentlich blaß. ›Anna, Anna!‹ rufe ich tonlos. Eine
schreckliche Furcht übermannt mich. Ich fühle, daß etwas geschehen ist. Fühle
ich es nur? Nein, ich weiß es bestimmt. Anna schläft jetzt, ich kann sie doch
nicht ohne Grund wekken ... Und doch ist soeben, oder vor langer Zeit vielleicht,
etwas geschehen, und es erreicht mich erst jetzt, dringt erst jetzt in meine
Sinne, gleich dem Glanz der untergegangenen Sterne, der uns erst spät in diesem
anderen Weltraum hier trifft. Ja, es geschah irgendwann einmal, aber wann? Wer
vermag den Augenblick zu fassen und festzuhalten, wer vermag zu erforschen,
wann zwischen zwei Menschen etwas zerbrochen ist? Vielleicht geschah es
nachts, als wir schliefen, oder während einer Mahlzeit, oder eben jetzt, als
ich heimkam. Oder es geschah schon vor sehr langer Zeit, und es ist möglich,
daß wir damals einander noch gar nicht kannten und daß zwischen uns beiden
niemals etwas begann. Wir haben das nur nicht gewußt und bemerkt. Wir lebten
und redeten, und wir küßten einander, wir schliefen zusammen, und einer
tastete nach des andern Hand, wir blickten einander an wie aufgezogene
Puppen, bei denen sich das Werk auch mit gebrochener Feder eine Zeitlang noch
bewegt und rasselt ... Auch bei den Toten wachsen ja Nägel und Haare noch
weiter, und vielleicht leben auch noch die Nervenzellen, wenn die roten
Blutkörperchen bereits tot sind. Wir wissen ja wenig! Aber was kann ich jetzt
tun? Welchen Scheinwerfer soll ich entzünden, um in dieser Finsternis und
Verwirrung den einzigen Augenblick zu finden, da ›es geschah‹.
Wie seltsam
– aber Anna hatte mich doch nicht betrogen. Und in diesem Augenblick wünsche
ich beinahe, es gäbe jemanden, einen sichtbaren, tastbaren Feind, den ich
überfallen, den ich umbringen könnte ... Es gibt aber keinen. Es gibt nur uns
beide – sie und mich – und diese Finsternis. Und diese Möbel, diese Wohnung,
diesen Beruf – aus alldem schwindet nun jeder Sinn, das Ganze ist nur noch
eine chemische Formel, ihr Inhalt aber hat sich verflüchtigt. Alles ist neblig
und unklar. Der Sinn des Lebens ist geschwunden. Wie lange kann man so leben?
Vielleicht sogar sehr lange. Ich habe Patienten, die seit Jahrzehnten so im
Dunkel leben, sie irren beständig am Rande des Abgrunds umher, ringsum ist
Finsternis.
Anna
schläft, und mir ist, als schliefe sie einen Todesschlaf. Was erwartet uns
noch? Die Welt ist grau, öde und kalt ... Wir werden weitergehen, essen,
schlafen, lieben ... Ja, warum nicht? So wie bisher. Denn jetzt weiß ich es
schon, auch das Dunkel hat hellere und dunklere Töne, auch die Leere kann
weniger und ganz leer sein. Jetzt weiß ich es plötzlich, daß wir nicht erst
seit gestern so leben, nicht seit einem Jahr, sondern seitdem wir einander
kennen. Wohin soll ich mich flüchten? In das ›Leben‹? Was ist das? Irgendeine
Art Theater mit aufgedonnerten Frauen, Trompetenlärm und dressierten
Seehunden? Soll ich mich in die Arbeit flüchten? Aber alles hat doch nur einen
Sinn, wenn Anna dahintersteht. Das Leben ... Anna ist das Leben! Jetzt schläft
sie, und ich weiß, sie hat mit mir nichts zu tun, wir haben überhaupt nichts
miteinander zu tun. Wer hat sie mir fortgenommen? Am liebsten würde ich mich
auf den Weg machen, ihn suchen, heraufbeschwören ... Vielleicht finde ich ihn,
er soll mit
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