Sandor Marai
... Plötzlich merke
ich, daß sie nicht mehr da ist und ich keine Antwort von ihr erhalten kann. Ich
rufe sie zurück, sehr energisch sogar, ich glaube, ein Recht dazu zu haben.
Anna gehört doch vorbehaltlos mir – ohne Kompromisse.
Selbstverständlich haben wir auch
ein gemeinsames Schlafzimmer. Ich wünsche es so. Ich will keine Abenteuer in
meiner Ehe, ich will zwei Betten und Nachttischchen, so wie man es noch in den
Schaufenstern der vorstädtischen Möbelgeschäfte sieht. Und womöglich einen
Haussegen über den Betten. Und im andern Bett Anna. Und wenn wir sterben: im
nächsten Grab Anna. Ich habe das Gefühl, daß es hierin kein Zurück mehr gibt.
Ein Mann lebt mit einer Frau, sie leben allem Anschein nach glücklich, so wie
es das göttliche und menschliche Gesetz gebieten. Ein Mann liebt eine Frau und
hat ein Recht auf dieses fremde Leben. Was bedeutet es denn eigentlich, dieses
›lieben‹? Wahrscheinlich ist lieben doch mehr als kennen! Zwei, die einander lieben, leben vielleicht in
genau dem gleichen Rhythmus. Das wäre ein wunderbarer Zufall, als gäbe es im
Weltall zwei Gestirne, die dieselbe Bahn ziehen – ein Zufall, mit dem man nicht
rechnen kann. Vielleicht gibt es ihn auch nicht. Ist mir je so etwas begegnet?
Wohl kaum. Gleichtakt im Leben und in der Liebe. Sie lieben die gleichen
Speisen, die gleiche Musik, sie gehen gleich schnell oder gleich langsam auf
der Straße, sie suchen einander mit dem gleichen Rhythmus im Bett ... Auch
darin besteht es wohl. Wie selten mag so etwas vorkommen! Ein Phänomen ... Ich
glaube, daß solche Begegnungen mystisch sind. Dies alles verstehe ich unter
›Gleichtakt‹!
Das Leben
aber sieht anders aus ... Der eine ist rascher, der andere langsamer, der eine
ist ängstlich, der andere mutig, der eine heiß, der andere lau. So sind die
Begegnungen, die allenthalben stattfinden, und man muß es hinnehmen: All dies
sogenannte Glück ist unvollkommen! Ich bin schließlich Arzt und kein mondsüchtiger
Träumer. In meinem Sprechzimmer sitzen Tag für Tag Menschen, denen es an Liebe
mangelt, die sich nicht zu offenbaren getrauen und sich verzweifelt über ihre
Einsamkeit beklagen. Ich weiß, es bedeutet schon sehr viel, wenn ein Mensch
nicht allein ist. Ich bin nicht allein. Anna lebt mit mir, sie schläft im
Nebenbett, es gibt einen Schaukelstuhl im Salon, wir gehen zusammen auf
Reisen, wir lesen zusammen Bücher. Anna hat doch kein Leben außer dem, das ich kenne. Sie stickt mir eine
Kragenschachtel zu meinem zweiunddreißigsten Geburtstag, wir nehmen an all
diesen spießbürgerlichen Sitten mit einer schauspielerhaften Mitschuldigkeit
teil. Ja, wir sind glücklich, soweit das göttliche und das menschliche Gesetz
es auf diesem Gestirn zulassen.«
16
»Eines Tages komme ich um halb zwei
wie gewohnt zu Mittag nach Hause«, er sagt dies vor sich hin, als wiederholte
er eine Lektion, »es ist Ende Oktober, seit zwei Tagen regnet es. Im Vorzimmer
hilft mir das Mädchen aus dem Mantel und wischt mir die Schuhe mit einem Tuch
ab. Unsere Wohnung wird von der Küche aus geheizt, schon im Vorzimmer merke
ich, daß Anna heizen ließ. Das erstemal im Jahr kommt dies immer ein wenig
einem Familienfest gleich, du weißt es vielleicht auch. Ich spüre den schwachen
Ölgeruch der Heizkörper, mich fröstelt. Scheinbar habe ich mich erkältet. Ich
bin froh, daß die Zimmer warm sind. Anna sitzt vor dem Sekretär im Wohnzimmer
und schreibt einen Brief. Ich bat sie morgens, mir einige neue Instrumente zu
bestellen, da die alten abgenutzt sind – jetzt schreibt sie diese Bestellung
noch schnell vor dem Mittagessen. Ich stehe hinter ihr und blikke auf die
violetten Buchstaben, auf ihre zarte, eilige Schrift, auf die Linie ihres
vorgebeugten Nackens. Sie trägt ein dunkelblaues Straßenkleid, sie war vormittags in der Stadt. Sie
blickt nicht auf, reicht mir nur die Linke. Am Fenster hängt ein Thermometer,
die Zimmertemperatur beträgt zwanzig Grad Celsius. Sehr angenehm. Ich friere
aber trotzdem. Ich gehe ins Sprechzimmer und nehme Aspirin. Vielleicht
überrascht es dich, daß ich mich so genau an diesen Tag und an diese Stunde
erinnere. Mich überrascht es auch. So genau erinnern wir uns sonst nur an
historische Ereignisse, deren Augenzeuge wir waren, oder an die Todesstunde
eines uns lieben Menschen. In solchen Fällen sagen wir: ›Es war Dienstag,
der achtundzwanzigste Oktober, nachmittags um halb drei‹ oder: ›Ich stand
bei seinem Bett, er verlangte Limonade, vier Minuten
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