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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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ausgebaggert werden. Und die Verladeanlagen sind nur noch Klüterkram. Ja, Rostock! Und Stettin! Da tun sie alles für. Von den großen Skandinaviern kommt keiner mehr nach Rerik.
    Er wurde so wütend, daß er Judith vergaß und mit großem Krach begann, leere Bierkästen auf die Straße zu tragen. Die innere Tür zur Gaststube war eine Schwingtür, die knarrend vor und zurück schwang, während er die Kästen hinauswuchtete. Ein Chinese, dachte Judith, ein großer, weißer, fetter Chinese. Nur nicht so leise wie ein Chinese.
    Sie sah wieder zum Fenster hinaus. Der Geistliche, der mit dem Fischer gesprochen hatte, kam jetzt über den Platz. Er ging an einem Stock. Judith sah, daß er Schmerzen haben mußte, denn in seiner Haltung war etwas Angestrengtes, so, als müsse er sich beherrschen, um sich nicht völlig über seinen Stock zu krümmen.
    Der Wirt kam wieder herein. Er sagte: Sie müssen mir noch Ihren Paß geben. Die Polizei will jetzt immer die Pässe sehen, wenn sie abends das Gästebuch kontrolliert.
    Judiths Finger schlossen sich um ihre Handtasche.
    Ich hab ihn oben in meinem Koffer, sagte sie. Ich bring ihn nachher herunter.
    Vergessen Sie es nicht! sagte der Wirt. Holen Sie ihn lieber gleich!
    Aus, dachte Judith. Es hat nicht geklappt. Ich kann den Paß nicht zeigen, sonst bin ich geliefert. Der Chinese läßt nicht mit sich reden. Jetzt muß ich hinaufgehen und dann muß ich runterkommen und sagen, ich müsse gleich wieder abreisen. Ich muß sagen, ich fühlte mich plötzlich krank oder irgend so etwas ganz Dummes. Er wird es mir niemals abnehmen. Und wenn dann nicht gleich ein Zug geht, komme ich vielleicht gar nicht mehr aus Rerik heraus.
    In ihre Panik hinein hörte sie den Wirt sagen: Sie sehen so ausländisch aus, Fräulein. So was wie Sie kommt selten nach Rerik. Hatte er schon etwas gemerkt? Auf einmal fühlte Judith, daß sie in der Gaststube eingesperrt war. Rerik war eine Falle. Eine Falle für Seltenes. Ach Mama, dachte sie. Mama war immer zu romantisch gewesen. Sie war auf eine von Mamas romantischen Ideen hereingefallen, als sie nach Rerik gereist war.
    Meine Mutter war halb italienisch, sagte sie. Beinahe hätte sie gelacht. Vielleicht ein bißchen hysterisch, aber jedenfalls gelacht. Mama war eine liebe kleine und sehr hamburgische Dame gewesen.
    Ach so, deswegen, sagte der Wirt. Sein Lampiongesicht blühte wieder hinter der Theke. Bringen Sie mir nur Ihren Paß, sagte er mit einer Stimme, die so weiß war wie sein Gesicht, sonst muß ich heute nacht klopfen und Sie aus dem Bett holen!
    Judith war sehr jung, aber sie begriff plötzlich, für welchen Preis sie es vergessen durfte, dem Wirt ihren Paß zu geben. Abscheulich, dachte sie. Mit einem scheuen Seitenblick streifte sie das Gesicht des Wirts. Es war weiß und fett, aber nicht nur fett, sondern auch felsig. Ein weißer Block, mit einer Gelatine von Fett überzogen. Sie mußte Zeit gewinnen. In diesem Augenblick sah sie den Dampfer.
    Ein Schiff, rief sie.
    Der Wirt kam näher und sah zum Fenster hinaus. Ein Schwede, sagte er gleichgültig.
    Ich will hinausgehen und mir ansehen, wie er anlegt, sagte Judith aufgeregt.
    Haben Sie noch nie ein Schiff ankommen sehen? fragte der Wirt. Sie kommen doch aus Hamburg!
    Ach, in den kleinen Häfen ist das viel schöner, widersprach Judith. Es gelang ihr, so viel Begeisterung in ihre Stimme zu legen, daß der Wirt nur den Kopf schüttelte. Die kindliche Tour, dachte Judith, ich muß die kindliche Tour schieben.
    Sie fühlte seinen falschen Vaterblick, als sie hinausging. Im Knarren der Schwingtür schüttelte sie sich.
    Die Luft draußen war kalt und klar. Sie sah den Dampfer aus Schweden, der am Eingang des Hafenbeckens angelangt war und von der Spitze der Mole aus zu einem großen Bogen ansetzte, einen müden, kleinen grauen Dampfer, mit roten Mennigflecken beschmiert, tief im Wasser liegend und keuchend unter seiner Holzlast. Sogar das Deck war mit Stämmen beladen, hellen Bündeln von Bäumen, die gelb in der kalten Sonne leuchteten. Die blaue Flagge mit dem gelben Kreuz hing schlapp am Heck.
    Der Junge
    Mutter, sagte der Junge, im Januar werd ich sechzehn, erlaubst du mir dann, daß ich nach Hamburg fahre und mir eine Heuer suche, auf ‘nem Frachter? Fang nicht wieder damit an, sagte sie, du weißt, das kommt nicht in Frage, du machst deine Lehrzeit bei Knudsen, und dann wirst du ja zwei Jahre zur Marine gezogen. Ich will, daß du ‘ne ordentliche Grundlage hast. Herrgott, dachte der Junge,

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