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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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tiefen Schatten auf seine rechte Gesichtshälfte warf. Sein Mund war nicht zu klein und nicht zu groß; er war genau richtig, und ohne Anstrengung geschlossen. Auch die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber sie waren es nicht, der junge Mann schlief nicht, er hatte nur die Angewohnheit, die Augendeckel fast zu schließen, während er las. Die Spalten, die seine sehr großen Augendeckel gerade noch frei ließen, waren geschwungen, zwei großzügige und ernste Kurven, in den Augenwinkeln so unmerklich gekrümmt, daß auch Witz in ihnen nistete. Sein Gesicht war ein fast reines Oval, in ein Kinn ausmündend, das fein, aber nicht schwach, sondern gelassen den Mund trug. Sein Körper unter dem Kittel mußte mager sein, mager und zart; er durfte offenbar den jungen Mann beim Lesen nicht stören.
    Das sind ja wir, dachte Gregor. Er beugte sich herab zu dem jungen Mann, der, kaum einen halben Meter groß, auf seinem niedrigen Sockel saß, und sah ihm ins Gesicht. Genauso sind wir in der Lenin-Akademie gesessen und genauso haben wir gelesen, gelesen, gelesen. Vielleicht haben wir die Arme dabei aufgestützt, vielleicht haben wir Papirossi dabei geraucht — obwohl es nicht erwünscht war -, vielleicht haben wir manchmal aufgeblickt, - aber wir haben den Glockenturm Iwan Weliki vor dem Fenster nicht gesehen, ich schwöre es, dachte Gregor, so versunken waren wir. So versunken wie er. Er ist wir. Wie alt ist er? So alt wie wir waren, als wir genauso lasen. Achtzehn, höchstens achtzehn. Gregor bückte sich tiefer, um dem jungen Mann gänzlich ins Gesicht sehen zu können. Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt. Aber dann bemerkte er auf einmal, daß der junge Mann ganz anders war. Er war gar nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektüre hingegeben. Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese. Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden Augenblick einen Finger auf den Text zu führen, der zeigen würde: das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.
    Liest er denn nicht einen seiner heiligen Texte, dachte Gregor. Ist er denn nicht wie ein junger Mönch? Kann man das: ein junger Mönch sein und sich nicht von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte nehmen und trotzdem frei bleiben? Nach den Regeln leben, ohne den Geist zu binden?
    Gregor richtete sich auf. Er war verwirrt. Er beobachtete den jungen Mann, der weiterlas, als sei nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen, dachte Gregor. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann und dennoch aufstehen und fortgehen. Er blickte mit einer Art von Neid auf die Figur.
    In diesem Augenblick hörte er das Geräusch der Portaltür und Schritte. Er wendete sich um. Er sah einen Mann, der seine Schiffermütze erst abnahm, als er bereits ein paar Schritte in die Kirche herein getan hatte.
    Der Junge
    Er aß die Schüssel voll Bratkartoffeln, die seine Mutter ihm hingeschoben hatte, und dann schlug er sich noch den Grießpudding ‘rein. Eine gute Grundlage, dachte er, während er sie nölen hörte, sie will, daß ich eine gute Grundlage habe. Das, was ich bei Knudsen lernen kann, hab ich längst gelernt. Ich kann ein Boot führen und mit den Netzen umgehen, und mit dem Wetter und der See kenn ich mich auch aus. Eine gute Grundlage, sagen die Erwachsenen, aber sie meinen nur, man soll alles genauso langsam kapieren wie sie selbst, das blöde Volk. Bin selber blöd, dachte er, weil mir der dritte Grund nicht einfällt, der letzte Grund, warum ich weg will. Er sah auf das Bild seines Vaters, auf die Fotografie, die an der Wand hing. Vater stand am Kai von Rerik, neben seinem Boot, das Boot war bekränzt, und Vater hatte seinen Sonntagsanzug an, weil Kaisers Geburtstag war, wie die Mutter erzählt hatte. Der Junge konnte das Bild nicht leiden, weil Vater darauf aussah wie jeder andere Fischer von Rerik, wie irgendein Fischer im Sonntagsanzug. Und natürlich wußte der Mann auf dem Bild keine Antwort auf die Frage nach dem letzten Grund.
    Knudsen - Gregor
    Das ist er, dachte

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