Sansibar Oder Der Letzte Grund
wehrhafte und fromme Gesicht: eine strenge spitze Nase, einen gekräuselten Vollbart, tote Augen. Aber der strenge Mann, der graue Marmormann, der ein König aus Schweden war, würde sich niemals erheben, um mit seinem Schwert Gregor zur Seite zu stehen. Es gab keine Könige aus Schweden mehr, die über die See fuhren, um die Freiheit des Glaubens zu schützen; oder wenn es sie gab, so kamen sie zu spät. Und das Gold der Fahne über dem König war nicht das Gold des Schildes von Tarasovka: es war fast schwarz geworden und würde sich in Staub auflösen, wenn man es berührte.
Gregor hatte Angst. Der Genosse aus Rerik ist immer noch nicht da, dachte er. Entweder ist er unzuverlässig, oder es ist etwas geschehen. Gregor hatte immer Angst, wenn er sich an einem Treffpunkt befand. Auf den Fahrten von einem Treff zum anderen hatte er auch Angst, aber nicht so viel wie am Treffpunkt selbst. Am Treffpunkt selbst gab es immer einen Moment, in dem er am liebsten davongelaufen wäre.
Er ging wieder zur Vierung vor. Ich gebe ihm noch fünf Minuten Zeit, dachte er, dann gehe ich. Er ertappte sich dabei, daß er dachte: am besten wäre es, wenn er gar nicht käme. Dann hätte ich meinen letzten Auftrag schon hinter mir. Schluß, dachte er, es muß Schluß sein. Ich spiele nicht mehr mit. Es war sein glücklichster und sein endgültiger Gedanke: ich steige aus. Er empfand keine Gewissensbisse dabei. Ich habe genug für die Partei getan, dachte er. Ich habe mir noch diese letzte Reise als Prüfung auferlegt. Die Reise ist beendet. Ich kann gehen. Ich gehe natürlich, weil ich Angst habe, dachte er unerbittlich. Aber ich gehe auch, weil ich anders leben will. Ich will nicht Angst haben, weil ich Aufträge ausführen muß, an die ich… Er fügte nicht hinzu: nicht mehr glaube. Er dachte: wenn es überhaupt noch Aufträge gibt, dann sind die Aufträge der Partei die einzigen, an die zu glauben sich noch lohnt. Wie aber, wenn es eine Welt ganz ohne Aufträge geben sollte? Eine ungeheuere Ahnung stieg in ihm auf: konnte man ohne einen Auftrag leben?
Von der Decke des südlichen Querschiffs, durch das Gregor hereingekommen war, hing ein Schiffsmodell, eine große, braun und weiß gestrichene Dreimastbark. Gregor betrachtete sie, an einen Pfeiler der Vierung gelehnt. Er verstand nichts von Schiffen, aber er stellte sich vor, daß mit einem solchen Schiff jener König über das Meer gekommen sein müsse. Dunkel und mit Träumen beladen hing die Bark unter dem weißen, in der Dämmerung immer grauer werdenden Gewölbe, sie hatte die Segel gerefft, aber Gregor stellte sich vor, daß sie im Hafen von Rerik lag, daß sie auf ihn wartete, um sogleich, wenn er an Bord gegangen war, ihre Segel zu entfalten. Tücher der Freiheit, in deren Geknatter sie auf die hohe See hinausfuhr, bis zu jenem Punkt, an dem ihre Masten, ihre von Segeln klirrenden Masten endgültig höher waren als die Türme von Rerik, die kleinen, winzigen und endlich in der Ferne der Knechtschaft versinkenden Türme von Rerik.
Der Genosse aus Rerik blieb immer noch aus. Wenn er nicht kam, so gab es keine Genossen in Rerik mehr. Dann war Rerik für die Partei nur noch ein aufgegebenes und vergessenes Außenwerk, zurückgefallen in das hallende Schweigen, seiner Plätze und Türme. Konnte man von hier fliehen? War der tote Punkt der Ort, von dem aus man sein Leben ändern konnte? Auf einmal wünschte sich Gregor brennend, der Mann aus Rerik möge doch kommen. Selbst an einem toten Punkt mußte es noch einen Lebendigen geben, der half. Er würde nicht helfen wollen. Gregor würde vorsichtig vorgehen müssen. Die Partei in Rerik würde einen Instrukteur des Zentralkomitees nicht unter ihren Augen desertieren lassen. Dann wurde er sich der Anwesenheit der Figur bewußt. Sie saß klein auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Gregor näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt, zu beiden Seiten der Stirn, die Ohren und die Schläfen verdeckend. Seine Augenbrauen mündeten wie Blätter in den Stamm der geraden Nase, die einen
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