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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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das kann doch nicht möglich sein, noch zweieinhalb Jahre mit Knudsen und dann zwei zur Marine, mit der man auch nicht rauskam, das halt ich nie aus. Aber auf ‘nem Frachter, sagte er, krieg ich doch auch eine gute Grundlage, bis ich Leichtmatrose werde, und ich krieg auch noch was zu sehen. Zu sehen, zu sehen, sagte die Mutter, immer wollt ihr was zu sehen kriegen, dein Vater wollte auch immer was zu sehen kriegen. Sie fing zu nölen an.
    Der Junge setzte sich in eine Ecke und begann vor sich hinzubrüten. Er hatte nicht die kleinste Spur einer Erinnerung an seinen Vater, aber wenn er die Mutter über ihn reden hörte, wußte er, warum Vater gestorben war. Er war gestorben, weil er nie etwas zu sehen gekriegt hatte. Seine sinnlosen, betrunkenen Fahrten auf die offene See waren Ausbrüche aus seiner Welt gewesen, in der er nie, niemals etwas zu sehen gekriegt hatte.
    Gregor
    Auf der Westfront der Georgenkirche lag die späte Nachmittagssonne des kalten Himmels. Gregor ging, das Rad schiebend, im Schatten der Häuser auf der anderen Seite des Platzes. Das war keine Kirchenfront, dachte Gregor, das war die Front einer riesigen uralten Ziegelscheune. Er vermied es, in das lehmrote Licht zu treten, das von der Scheune ausging. Die Weite des Platzes vor der Kirche und das Licht darauf störten ihn; nicht das Hauptportal, dachte er, alle Häuser um den Platz würden einen Mann beobachten, der auf das Hauptportal zuginge. Dabei war der Platz keine Bühne. Es war eine Tenne. Es war schon lange auf ihm kein Korn mehr gedroschen worden. Feierlich lag er im toten herbstlichen Nachmittagslicht vor der geschlossenen roten Wand, der Wand aus rostigen Steinen, der verrosteten Wand, die nie mehr in zwei großen Flügeln auseinanderklappen würde, um die Erntewagen einzulassen. Ob die Scheunen, die wir für unsere Ernte bauen, auch einmal so verlassen daliegen werden, dachte Gregor. Als er um die Kirche herumging, fand er auf der Südseite, in einem toten Winkel, der höchstens von zwei oder drei Häusern aus eingesehen werden konnte, ein anderes Portal. Er lehnte sein Fahrrad gegen eines der Häuser; auf einem Messingschild, das neben der Tür angebracht war, las er: Pfarramt St. Georg. Gut, dachte er. Und dann dachte er: so weit ist es also schon gekommen mit uns, daß wir unter den Fenstern eines Pfarrhauses aufatmen. Er ging hinüber zur Kirche und die paar Stufen zum Portal hinauf: der eine der beiden Flügel öffnete sich, als er dagegen drückte.
    Er befand sich im südlichen Querschiff, und er ging rasch zur Vierung vor, um nachzusehen, ob der Verbindungsmann aus Rerik schon da war. Die Kirche war vollständig leer. In diesem Augenblick schlug es vom Turm vier Uhr; die Glokkentöne füllten die ganze Kirche mit ihrem bronzenen Geschmetter, aber den letzten schnitt die Stille wie mit einem Messer ab. Ich bin pünktlich, dachte Gregor, hoffentlich läßt mich der Genosse nicht warten.
    Ein Mann, offenbar der Küster, kam aus der Sakristei und machte sich am Hochaltar zu schaffen. Gregor begann in der Kirche umher zu gehen, als wolle er sie besichtigen. Nach einer Weile verschwand der Küster wieder in der Sakristei. Im Gegensatz zum Außenbau war das Innere der Kirche weiß gestrichen. Die Oberfläche der weißen Wände und Pfeiler war nicht glatt, sondern bewegt und rauh, da und dort vom Alter grau oder gelb geworden, besonders dort, wo sich Risse zeigten. Das Weiß ist lebendig, dachte Gregor, aber für wen lebt es? Für die Leere. Für die Einsamkeit. Draußen ist die Drohung, dachte er, dann kommt die rote Scheunenwand, dann kommt das Weiß, und was kommt dann? Die Leere. Das Nichts. Kein Heiligtum. Diese Kirche ist zwar ein guter Treff, aber sie ist kein Heiligtum, das Schutz gewährt. Mach dir nichts vor, sagte Gregor zu sich, nur weil du weißt, daß die Kirche nicht den Anderen gehört, - du kannst hier genauso verhaftet werden wie überall. Die Kirche war ein wunderbarer weißer, lebendiger Mantel. Es war seltsam, daß der Mantel ihn wärmte, - ja, sehr seltsam war das, und Gregor nahm sich vor, darüber nachzudenken, wenn er einmal Zeit haben würde, nach der Flucht vielleicht, nach der Flucht von den Fahnen, - aber daß die Kirche mehr wäre als ein Mantel, darüber machte sich Gregor keine Illusionen. Sie konnte vielleicht vor Kälte schützen, aber nicht vor dem Tod. In einer Kapelle im südlichen Seitenschiff hing eine verwitterte goldene Fahne. Unter ihr kniete ein Mann und betete. Der Mann hatte das übliche

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