Sansibar Oder Der Letzte Grund
gestanden hatten; der ältere, beleibte, wandte sich der Stadt zu, der jüngere folgte den Leuten von der Mannschaft, die zum ›Wappen von Wismar‹ hinübergingen. Zwei Männer blieben auf dem Schiff zurück, sie sahen zu, wie die Menschen, die das Anlegen des Dampfers beobachtet hatten, sich verliefen, wie sie sich dem Teil des Kais zuwandten, an dem jetzt die ersten heimkehrenden Kutter der Fischerflotte festmachten. Auch Judith ging ein paar Schritte in diese Richtung, aber sie blickte die ganze Zeit auf die weißgestrichene Front des ›Wappens von Wismar‹, die schwedischen Seeleute drängten durch die grüngestrichene Tür hinein, die hinter ihnen zufiel, über der Tür brannte eine Laterne hinter rauchgelben Gläsern, das ›Wappen von Wismar‹ war auf einmal wieder eine Seefahrerherberge, vielleicht komme ich mit ihnen ins Gespräch, oder der Wirt hilft mir, der böse Wirt hinter der grünen Tür, der Chinese in der Herberge mit dem alten schönen Namen, aber lieber wären mir die schwedischen Matrosen, dachte Judith, sie fror, und langsam ging sie auf das weiße Haus zu. Sie riskiert es also, dachte Gregor. Sie rechnet damit, daß die Schweden sie anhauen und daß sie so eine Chance bekommt, mitgenommen zu werden. Es ist eine Chance von eins zu neunundneunzig, dachte er. Nein, korrigierte er sich, sagen wir von zehn zu neunzig. Es konnte sein, daß der Mann, mit dem sie es zu tun bekam, politisch in Ordnung war oder ein toller Hund, der gern einmal und im Ernst hoch spielte. Ein Mädchen wie dieses bekam man nicht alle Tage geboten; man konnte sich schon vorstellen, daß es klappte, wenn sie an einen richtigen Kerl geriet. Wenn sie es zum Beispiel mit ihm, Gregor zu tun bekäme… - er begann sich auf einmal der Aufregung bewußt zu werden, in der er sich befand, er hatte Feuer gefangen, stellte er fest, und zwar hing seine Erregung mit dem jungen Mann zusammen, der las, mit dem Genossen Klosterschüler, wie er ihn bereits bei sich nannte. Seit dem Augenblick, in dem er ihn gesehen hatte, war er in eine Aufregung geraten, in eine überspannte, erwartungsvolle Aufregung; es war dasselbe Gefühl wie damals, vor sieben oder acht Jahren, als er die Partei entdeckt hatte, die Partei und die Revolution. Und nun kam noch dieses Mädchen dazu. Er fühlte, wie sich ein Netz von Beziehungen anspann, zwischen dem Burschen in der Kirche und dem Mädchen und ihm, Gregor, selber. Aber nur einer konnte das Netz auswerfen: Knudsen. Wenn Knudsen nicht wartete, zerfiel das Abenteuer wie Staub. Wenn er kniff, zerriß das Netz. Sollte er hinübergehen, und es ihm sagen? Die ›Pauline‹ lag noch immer dort drüben, und Gregor sah Knudsen mit dem Aufrollen einer Stahltrosse beschäftigt. War es die Ankertrosse? Nein, soviel wußte Gregor, daß solche Boote im Hafen nicht verankert wurden; sie waren mit Tauen am Pier vertäut. Er konnte sich jetzt nicht weiter um Knudsen kümmern. Außerdem wußte er, daß es falsch wäre, jetzt noch einmal mit Knudsen zu sprechen. Es mußte jetzt klappen, ohne daß ein weiteres Wort gesprochen wurde. Lieber Gott, betete er, mach, daß Knudsen bleibt! In bestimmten Augenblicken, in den Augenblicken, auf die es ankam, betete Gregor immer. Er dachte sich gar nichts dabei; es kam von selbst. Dann bückte er sich und löste die Fahrradklammern von seinen Hosen, ehe er das Gasthaus betrat. Er schob sie in die Tasche, wo sie leise an den Kirchenschlüssel klirrten.
Es war doch das Ankerspill, an dem Knudsen arbeitete; er legte es zurecht, um draußen ankern zu können; bei der Brise, die seit einiger Zeit wehte, mußte er das Boot festlegen, wenn er das Schleppnetz auslegte. Und nun sah er wirklich Kröger auf sich zukommen, den großen Kröger, den früheren Genossen Kröger, einen Ochsen von einem Mann, und natürlich brüllte Kröger ihm schon von weitem zu: Mensch, warum bist du nicht mit raus, der Dorsch steht ganz dick beim Buk-Sand. Knudsen ließ ihn herankommen; er bemerkte, daß die Leute, die auf dem Kai herumstanden, zuhören wollten, und er sagte leise zu Kröger: Ich war krank. Die Galle. Aber Kroger sagte dröhnend: Du und krank!
Rindvieh, sagte Knudsen, schrei noch etwas lauter, wenn du kannst!
Was ist denn los? fragte Kröger und glotzte ihn an. Ist was mit Bertha? setzte er zögernd hinzu.
Was soll denn mit Bertha sein? fragte Knudsen gereizt. Mit Bertha ist gar nichts. Ich war krank.
Kröger sah ihn mißtrauisch an. Er ahnt etwas, dachte Knudsen, er ist zwar ein Ochse, aber
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