Sansibar Oder Der Letzte Grund
liefen sie ein, zwei, drei, vier schwarze kleine Boote, die bereits ihre Topplaternen angezündet hatten, Krögers ›Rerik 63‹ war darunter, und Knudsen wurde nervös, denn er wußte, daß Kröger, wenn er festgemacht hatte, auf ihn zukommen und ihn ausfragen würde, warum er erst jetzt ausfahre. Mach zu, sagte er zu dem Jungen, der dabei war, die Taue des Besanschots festzuzurren, es wird Zeit, daß wir wegkommen; er selbst zog das Großschot stramm, denn er wußte, daß die Nocks in den harten Böen sofort beginnen würden, hin und her zu schlagen, wenn man die Taue nicht festmachte. Nichts gefiel Knudsen heute, er stellte fest, daß die Zeit, die er sich für die Abfahrt gesetzt hatte, schon um eine halbe Stunde überschritten war, es war halb sechs, immer mehr Leute kamen aus den Häusern und Straßen heraus auf den Kaiplatz, um bei der Rückkehr der Fischerflotte dabei zu sein; solche, die etwas dabei zu tun hatten, und Müßiggänger, und das Hafenwasser war unruhig, es klatschte hart gegen die Kaimauer, so daß die ›Pauline‹ manchmal heftig bockte und an ihrer Vertäuung riß. Knudsen blickte hinüber zu der Stelle des Kais, wo der Schwede festmachte, weil er wußte, daß Gregor dort stand; er hatte ihn sofort bemerkt, wie er von der Nicolaigasse her über den Platz gegangen war, dorthin, wo das Schiff anlegte; auch darüber, besonders darüber war Knudsen zornig. Der Kerl ist also nicht abgehauen, dachte er, er treibt sich noch hier herum, was will er eigentlich? Er soll sich doch nicht einbilden, der Schwede nähme ihn mit, so einfach ist das nicht, die wollen keine Scherereien haben, sie haben scharfe Anweisungen von ihren Reedereien.
Nummer drei, dachte Gregor, während er das Mädchen beobachtete. Nummer drei, die fliehen will. Erst war es nur ich, dann ist der Klosterschüler dazugekommen, jetzt diese da. Ein reizendes Land - man steht vor fremden Schiffen an, um es zu verlassen. Er blickte über den belebten Platz: nein, diese Leute alle wollten nicht fort, viele von ihnen mochten unzufrieden sein, aber sie kamen nicht auf die Idee, fortgehen zu wollen. Nicht einmal Knudsen, der doch bedroht war, wollte weg. Gregor sah Knudsen auf dem Deck des Kutters hantieren, er konnte ihn in der Dunkelheit nicht mehr sehr genau erkennen, aber er wußte, daß diese undeutliche Gestalt Knudsen war, daß Knudsen also noch nicht abgefahren war, sondern sich wütend aufhielt und ihn, Gregor, beobachtete. Er will bleiben, dachte Gregor, und sie alle wollen bleiben. Nur wir drei wollen weg - ich, der Klosterschüler, das Mädchen. Aber es ist ein Unterschied, dachte er plötzlich, zwischen mir und den beiden anderen. Ich will weg, aber sie müssen weg. Ich bin zwar bedroht, mit dem Konzentrationslager, mit dem Tod, aber ich kann trotzdem frei entscheiden, ob ich bleibe oder gehe. Ich kann wählen: die Flucht oder das Martyrium. Sie aber können nicht wählen: sie sind Ausgestoßene.
Judith sah zu, wie die Breitseite des Schiffes sich an die Kaimauer heranschob, sie hörte das Aufrauschen des Wassers in dem Wirbel, den die Schraube erzeugte, ehe sie zum Stillstand kam, und die plötzliche Stille danach, in der auf einmal Rufe zu hören waren, Stimmen, Befehle, durch die Nacht und das Scheinwerferlampenlicht geschrien, bei denen es sich um das Festmachen der Taue an den eisernen Pfählen handelte, sie beobachtete, wie die Gangway von der Reling zur Kaimauer herübergeschoben wurde. Sie sah die ganze Schäbigkeit dieses kleinen, ausgedienten Dampfers, seine nachlässige Bemalung mit den großen roten Mennigflecken, die im Licht grell leuchteten - die Reederei steckte kein Geld mehr in einen richtigen Anstrich -, die peinliche Sauberkeit der grau gewordenen Holzplanken des Decks, das erblindete Messing irgendeines Beschlags. Auf diesem Schiff gab es keinen Unterschied zwischen Offizieren und Mannschaft. Judith sah auf der Brücke zwei Männer stehen, einen älteren, kleinen, beleibten Mann und einen größeren, jungen, aber sie trugen Lederjacken und Schiffermützen wie die Leute von der Mannschaft auch, die an der Reling standen, zum Ausgang bereit. Es gibt auf diesem Dampfer keine Offiziere, dachte Judith, keine gebildeten Männer, an die ich mich wenden kann; in ihrer Vorstellung tauchte das Bild eleganter blaugekleideter Seeoffiziere auf, mit goldenen Streifen an den Ärmeln, ein schmissiges Plakat von Herren, Kavalieren mit intakten Ehrbegriffen, schweigend bereit, den Schutz einer Dame zu übernehmen. Sie
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