Sansibar Oder Der Letzte Grund
ich dann nicht mit mir nehmen. Und man wird mich spätestens morgen Früh aufgreifen, auf irgendeiner Landstraße um Rerik oder auf irgendeinem kleinen Bahnhof der Umgebung, ein Mädchen mit einer Handtasche, in der sich viel Geld befindet und ein Paß, der einen großen roten Stempel trägt: Jude. Sie sah sich um. Niemand schaute jetzt mehr zu ihr hin.
Der Wirt hatte zuletzt so leise mit ihr gesprochen, im Ton des geheimen Einverständnisses, daß sie unmöglich etwas von der Unterhaltung hatten verstehen können. Judith stocherte in der Omelette herum. Sie hörte die Stimme des Radioansagers: Wir bringen jetzt ein Lied aus dem Tonfilm ›Heimat‹, gesungen von Zarah Leander.
Gleich darauf setzte die Musik ein. Judith sah, daß die Schweden sich zum erstenmal gegenseitig anblickten. Dann sahen sie wieder geradeaus, mit Blicken, die nun nicht mehr hindämmerten, sondern mit starren, verlegenen und belästigten Blicken, als die Sängerin einsetzte: Man nennt mich Miss Jane, die berühmte, bekannte, yes sir…
Judith war für einen Augenblick hingerissen von der Stimme, einer tiefen, spöttischen Stimme, die elegant im Rhythmus des Schlagers schwang: …nicht sehr beliebte bei Onkel und Tante, no sir… Es entging ihr, daß einer der schwedischen Seeleute ausspuckte und laut ein weiteres Bier verlangte, und daß der graue junge Mann von der Zeitung aufblickte und nach dem Tisch der Schweden hinübersah.
Sie wurde im Zuhören unterbrochen, als die Kellnerin ein
Glas Schnaps vor sie hinstellte.
Ich habe das doch nicht bestellt, sagte Judith.
Es kommt von dem Herrn dort drüben, erwiderte die Kellnerin. Sie wies auf den großen jüngeren Mann am Schweden-Tisch.
Ich muß es zurückweisen, dachte Judith. Unwillkürlich sah sie zur Theke hin - natürlich, der Wirt beobachtete sie. Aber es ist die Gelegenheit, überlegte sie rasch, die einzige Gelegenheit, mit dem Schiff in Verbindung zu kommen. Und ich habe sie gewollt. Die Stimme sang jetzt den Refrain:… so bin am ganzen Leibe ich… Während Judith noch überlegte, was sie tun solle, sah sie, daß der junge Schwede sich erhoben hatte und auf sie zu kam… ja, so bin ich, und so bleibe ich, yes sir… beendete die Stimme den Refrain, triumphierend und melancholisch. Dann spielten nur noch die Instrumente.
Der Mann stand nun an ihrem Tisch, ein großer Mensch, blond. Er hat ein anständiges Gesicht, dachte Judith, ein helles Gesicht, in dem nicht viel drin ist, ein anständiges, unreifes Gesicht. Er ist ein bißchen betrunken. Sie hörte, wie er unbeholfen sagte: Von mir…
Sie sagte auf englisch zu ihm: Nett von Ihnen. Aber ich trinke so etwas nicht.
Oh, sagte er bestürzt und zugleich erfreut, weil sie Englisch mit ihm sprach. Sie trinken das nicht? fragte er, gleichfalls in Englisch, das ihm offenbar leichter fiel als Deutsch. Er stieß mit dem Finger an das Glas, es stürzte um und die Flüssigkeit rann über das Tischtuch. Sie wurde rasch aufgesogen.
Die Sängerin hatte wieder angefangen zu singen. Der Wirt kam herbei. Setzen Sie sich wieder hin, sagte er wütend auf schwedisch. Lassen Sie die Dame in Ruhe! Der Schwede kümmerte sich gar nicht um ihn. Er hatte mindestens ein halbes Dutzend Gläser Schnaps getrunken. Er blieb ruhig stehen, während der Wirt das Tischtuch abnahm und damit die Platte trocken rieb.
Wollen Sie Whisky? fragte der Seemann. Es ist furchtbar peinlich, dachte Judith, sogar vom Tisch der Einheimischen schauen sie jetzt zu mir her. Aber ich habe keine Wahl.
Sie nickte. Whisky ist etwas sehr Schönes, sagte sie. Whisky ist wirklich etwas sehr Schönes, dachte sie. Ich mag Whisky gern. Sie vertraute sich wieder ein paar Augenblicke lang der tiefen, singenden Stimme an, dem spöttischen Kitschlied… sie fürchten, ich könnte den Onkel, den Neffen, sang die Stimme, im Spielsalon oder im Himmelbett treffen… Es müßte dunkelblonder schottischer Whisky sein, dachte Judith, milder, starker, trockener Whisky mit einem Geruch nach Roggen. Papa hatte immer welchen und er ließ mich manchmal daran nippen. Er riecht nach Roggen, sagte er immer, merkst du es? Nach Roggen und Schottland und Seewind und uralten Fässern. Sie war ein kleines Mädchen gewesen, damals, und sie hatte ins Glas geblickt, in die blonde Roggenflut, in der ein Eiswürfel mit bläulichen Rissen langsam zerging.
Kommen Sie mit, hörte sie den Schweden sagen, wir haben einen echten Scotch auf dem Schiff. Ich lade Sie ein. In der Gaststube war es jetzt totenstill. Nur
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