Sansibar Oder Der Letzte Grund
nicht da bin?
Gregor faßte in seine Hosentasche und vergewisserte sich, daß er den Schlüssel hatte, den Schlüssel zur Georgenkirche. Er erinnerte sich an sein Fahrrad, das noch immer am Pfarrhaus lehnte. Ich könnte schon längst weg sein, dachte er, wenn ich nicht den Schlüssel genommen hätte, aber er bedauerte es nicht, ihn genommen zu haben. Es gab keine Möglichkeit, von hier zu entkommen, also konnte er genausogut erst noch diese Sache mit der Figur erledigen, ehe er weiterfuhr. Er hatte tadellos gefälschte Papiere in der Tasche und genügend Geld, um es noch eine Weile auszuhalten. Er wußte, daß er unauffällig aussah, ein magerer junger Mann, etwas unter mittelgroß, mit einem grauen Anzug und dunklen Haaren, ein Mann, wie es ihn überall gab. Er würde weiterradeln, morgen oder vielleicht noch heute nacht, nach Westen. Es gab im Emsland ein paar Übergänge, die todsicher waren; er würde sie schon ausfindig machen. Er fühlte sich noch immer bedroht, er wollte noch immer kneifen, aber auf einmal hatte das alles Zeit, die Gefahr schien einen Augenblick stillzuhalten, in den Ablauf der Flucht war eine Pause eingetreten. In den drohenden Tag, in den kalten, farblosen, späten Oktobertag hatten sich merkwürdige Sensationen gelegt wie farbige Emailflächen, die roten Türme von Rerik, die Erinnerung an den goldenen Schild von Tarasovka, die Figur eines jungen Mannes, der las. Und zuletzt dieses junge Mädchen. Der leere Tag hatte sich gefüllt: mit den Augen von Ungeheuern, die in die Ewigkeit der eisblauen See starrten, mit dem Gold seines ersten Verrats an einem Dogma, mit der holzbraunen Gelassenheit eines ungläubigen Lesers, mit dem Windschwarz der Haare vor einem bleichen, flüchtenden Gesicht. Er begriff auf einmal, daß er die Partei vergessen hatte und daß er frei war, befreit durch Dinge, die sich überhaupt nicht fassen ließen: Türme und Gelassenheit, Windschwarz und Verrat. Sie waren stärker als die Partei; sie waren es, nicht die Partei, die seinen schon zur Flucht gewendeten Fuß innehalten ließen, so daß er sich jetzt ziellos, fast spielerisch, am Hafen von Rerik herumtrieb, das Mädchen umkreisend wie ein aufmerksamer grauer Vogel, den Schlüssel in der Faust, der ihn zu dem Klosterschüler führen würde, und zugleich beobachtend, ob Knudsen wartete oder ausfuhr. Es ist gänzlich Nacht geworden, dachte Judith, in das Dunkel am Rand des Lichtkreises zurückgezogen, in ein Schattensegment zwischen dem einen Lampenrund und dem nächsten, und kalt ist es auch, und ich kann nicht ins Hotel zurück, weil ich meinen Paß nicht herzeigen kann. Aber ich kann auch nicht den Koffer einfach oben im Zimmer stehenlassen und verschwinden, er ist das letzte, was ich besitze, und außerdem würde mich das verdächtiger machen, noch verdächtiger, als wenn ich ihn jetzt abhole und fortgehe. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, den Wirt nachts klopfen zu lassen. Er verschafft mir dann vielleicht auch eine Möglichkeit, von hier fortzukommen; er ist einer, der alle Wege kennt. Sie ertappte sich dabei, daß sie diesen Ausweg nicht mehr ganz so abstoßend fand wie vorhin, in der Wirtsstube, oder vielmehr: sie fand ihn noch genauso abstoßend, aber nicht mehr so völlig absurd und undenkbar. Vielleicht war es immer auf Fluchten so, daß das flüchtende Mädchen sich einem Scheusal hingeben mußte, dachte sie verzweifelt und romantisch. Die Nacht war jedenfalls schrecklich, dunkel und kalt, das Meer hinter dein Hafen war schwarz und nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden im grellen Licht der Kailampen, die Häuser waren unten blutigrot und oben, wo sie nicht mehr vom Licht erfaßt wurden, dunkelrot, viele Menschen gingen als aufrechte Schatten ihrer liegenden Schatten umher, Schlagschattenschwärze unter ihren Nasen, in ihren Augen, und die eiskalten Windstöße flatterten wie Fahnen zwischen ihnen, wie die kalten Fahnen der blutigroten Türme, die jetzt angestrahlt waren, grelle, wütend aufgerichtete geblendete und blutende Ungeheuer. Wenn ich nur einen Menschen hier kennen würde, dachte Judith, ich kann doch nicht in diese Nacht hinaus fliehen, ich hätte auf Heises Ratschläge hören sollen. Mutlos blickte sie auf die Fahne, die blaue Fahne mit dem gelben Kreuz, die manchmal in einer Bö knatterte; sie war das einzige hier, was nicht blutigrot war, kalkweiß oder schattenschwarz. Judith sah zu, wie die Männer von Bord gingen, zuerst die Mannschaft, dann auch die beiden, die oben auf der Brücke
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