Sansibar Oder Der Letzte Grund
höchstens eines seiner Medizinersprüchlein hergesagt. Hält er’s aus, wird er gesund, hält er’s nicht aus, geht er zugrund, oder etwas Ähnliches. Oder: es hängt alles vom Patienten ab. Doktor Frerking war ein guter Arzt - er konnte Zaubersprüche so vorbringen, daß man sie ihm glaubte. Ein guter Pfarrer tat nichts anderes. Auf die Wahrheiten der Medizin und der Religion kam es schon lange nicht mehr an; was man von den Ärzten und Pfarrern hören wollte, waren Zaubersprüche, Beschwörungsformeln.
Ich werde Ihnen den Wagen vom städtischen Krankenhaus schicken, hatte Frerking gesagt. Sie können nicht mit der Bahn fahren.
Krankenwagen? Der Pfarrer war aus seinen Überlegungen gerissen. Nein, nein, lassen Sie nur! Das würde zuviel Aufsehen in der Stadt erregen. Ich werde mir ein Taxi bestellen.
Wie Sie wollen. Der Arzt hatte sich erhoben. Dann gehe ich jetzt und telefoniere mit der Klinik in Rostock.
Helander hatte sich bedankt, und er war mit dem Gehör den Schritten Frerkings gefolgt, dem Geflüster, unten, mit der Haushälterin, dem Klappen der Haustür, der Abfahrt des Autos. Eine Weile noch hatte er regungslos unter dem Licht der Stehlampe gesessen, ehe er begann, sich die Prothese wieder anzuschnallen und die Hose hochzuziehen. Zuletzt hatte er die Krawatte gebunden und den dreiviertellangen schwarzen Rock angezogen, der seinen Anzug zu einem geistlichen Gewand machte. Und dann hatte er die Erleichterung gespürt.
Noch heute abend nach Rostock, Gebhard muß das Bein sofort vornehmen, das ist es, was ich von Frerking habe hören wollen, dachte Helander. Die klare Verkündung der Todesgefahr habe ich gewollt, die Gewißheit, aber nicht nur sie, sondern auch den Eingriff der höheren Gewalt. Darum habe ich die Konsultation Frerkings nicht auf morgen verschoben, sondern ihn bitten lassen, sogleich zu mir zu kommen. Übrigens: morgen hätte ich keine Gelegenheit mehr gehabt, ihn zu konsultieren. Die Nacht über hierbleiben heißt: den ›Klosterschüler‹ retten. Den ›Klosterschüler‹ retten heißt: morgen früh abgeführt werden. In ein Konzentrationslager mit dem Tod im Bein. Der Doktor hat das Problem für mich gelöst: sofort nach Rostock, sofort Professor Gebhard, sofort das Sichklammern an einen Strohhalm. Die höhere Gewalt hatte entschieden: das Klinikbett statt des Martyriums. Helander hatte Grund, sich erleichtert zu fühlen.
Er erinnerte sich noch genau an den Augenblick, in dem er seinen Entschluß, zuerst die Sache mit der Figur zu erledigen, ehe er den Arzt um Hilfe bitten würde, geändert hatte. Es geschah, als ich aus der Kirche zurückkam, dachte der Pfarrer, nachdem ich mit Knudsen und mit diesem jungen Mann, der sich Gregor nennt, gesprochen hatte. Auf einmal hatte ich Angst. Es war so still im Pfarrhaus gewesen, als er zurückgekehrt war. Und die Stille im Pfarrhaus war nur ein Abbild der Stille in der Kirche, der Stille in der ganzen Stadt gewesen. Es war zwar nicht stiller gewesen als sonst auch in den letzten Jahren, aber noch nie hatte er die Stille so unerträglich gefunden. Stille war übrigens das falsche Wort. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß die Ingenieure jetzt in der Lage waren, ›schalltote‹ Räume zu konstruieren. Das war die richtige Bezeichnung. Die Stadt, die Kirche und das Pfarrhaus waren zu einem schalltoten, echolosen Raum geworden, seitdem die Anderen gesiegt haten. Nein, nicht seitdem die Anderen gekommen waren, sondern seitdem Gott sich entfernt hatte. Der hohe Herr hält es nicht für nötig, anwesend zu sein, dachte der Pfarrer höhnisch und erbittert. Vielleicht hat der dringendere Geschäfte. Vielleicht liegt er einfach auf der faulen Haut. Jedenfalls hat er uns in Rerik seit Jahren nicht besucht. Nicht einmal ein paar Zeichen hat er auf die Kirchenwand geschrieben, keine noch so geringfügige Botschaft in unsichtbarer Tinte, nur für mich zu entziffern, auf die rote Backsteinwand von Sankt Georgen.
Morgen früh wird das Schweigen noch lähmender sein, dachte Helander. Morgen früh werden auch noch die letzten Menschen gegangen sein: Gregor, Knudsen und mein kleiner Mönch aus Holz. Ich allein werde zurückgeblieben sein. Ich ganz allein werde in der Tinte sitzen. Es ist absurd, wegen einer kleinen leblosen Holzfigur so allein zu sein, wie ich morgen früh allein sein werde, morgen früh, wenn die Anderen kommen.
Er rekapitulierte seine Angst, während er im Telefonverzeichnis die Nummer des Taxiunternehmens heraussuchte. Drei, drei,
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