Sansibar Oder Der Letzte Grund
Menschen. Als Judith den Wind spürte, zog sie den Gürtel ihres Mantels enger.
Und wohin jetzt? fragte eine Stimme hinter ihr.
Judith fuhr herum. Das also war das Ende. Man sprach eiskalt und höhnisch den Gedanken aus, den sie in diesem Augenblick gedacht hatte, den einzigen Gedanken, den zu denken sie noch in der Lage war, - man hatte sie erwischt. Der Schrecken erfaßte sie so vollständig, daß sie auf der Stelle davongelaufen wäre, wenn sie seinen Urheber erblickt hätte. Aber sie konnte nichts erkennen; der Sprecher mußte in der tiefsten Schwärze des Schattens stehen, den das Schiff warf. Sie versuchte die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen, und endlich erkannte sie eine Spur von Bewegung, die mit dem leisen, fast geflüsterten Schall neuer Worte auf sie zukam.
Was haben Sie denn jetzt vor?
Der Sprecher kam auf sie zu, er war ganz schnell bei ihr und faßte sie am Arm, ein Mann nicht größer als sie selbst, ein junger Mann, dessen Gesicht ich heute abend schon einmal gesehen haben muß, dachte Judith. Einer, den ich gesehen habe und der mir nachgegangen ist, einer, der mich erwischen hat wollen und mich erwischt hat.
Ins Hotel können Sie ja nun nicht zurück, sagte Gregor, oder müssen Sie Ihren Koffer unbedingt haben?
Judith schüttelte den Kopf. Gregor sah sie an und ließ ihren Arm los. Er lachte trocken.
Ach so, Sie halten mich für einen von den Anderen, sagte er. Entschuldigen Sie, daß ich daran nicht gedacht habe. Sehe ich so aus?
Sie erkannte ihn wieder. Er hatte heute abend in der Gaststube gesessen, erinnerte sie sich. Plötzlich fiel ihr ein, daß er es gewesen war, der den Wirt zu sich gerufen hatte, als die Spannung am größten gewesen war, - der graue junge Mann, der zu Abend gegessen und dabei die Zeitung gelesen hatte. Sah er aus wie einer von den Anderen? Sie wußte nicht, wie sie aussahen, sie hatte keine Erfahrung mit ihnen, sie wußte nur, daß man vor ihnen floh oder daß man Selbstmord beging, wenn man nicht mehr vor ihnen fliehen konnte.
Was täten Sie denn jetzt, wenn ich einer von den Anderen wäre? fragte Gregor. Eine Art von Abneigung hatte ihn erfaßt, während er in ihr verwöhntes Gesicht sah; gereizt durch ihre abwesende und fremdartige Hilflosigkeit, trieb er einen Augenblick lang das grausame Spiel seiner Fragen weiter. Er folgte ihrem Blick, der sich ziellos in der Nacht verlor, ziellos seewärts.
Ins Wasser springen? fragte Gregor höhnisch. Was glauben Sie, wie schnell man Sie wieder herausgefischt hätte! Dann nahm er sich zusammen und sagte: Los, kommen Sie mit! Es gibt vielleicht eine Möglichkeit für Sie, hier herauszukommen.
Er faßte sie wieder am Arm und ließ ihn erst los, als sie begann, neben ihm herzugehen; zu seinem Erstaunen ging sie sehr schnell, auf eine atemlose, hastige Weise, so daß er, als sie in die Nicolaigasse einbogen, zu ihr sagen mußte: Langsam, immer mit der Ruhe! Er dachte: hoffentlich versaut sie mit ihrer Nervosität nicht alles!
Als sie eine Weile gegangen waren, blieb sie plötzlich stehen und sagte: Aber ich kann doch meinen Koffer nicht einfach…
Haben Sie das Geld noch im Koffer? unterbrach er sie.
Nein, sagte Judith, es ist hier in meiner Handtasche.
Na also, erwiderte Gregor, alles andere ist unwichtig.
Unwichtig, überlegte sie zornig, während sie an das Kleid, die Wäsche und die zwei Paar Schuhe dachte, die sich in ihrem Koffer befanden. Die hübschen Toilettensachen.
Als erriete er ihre Gedanken, sagte Gregor: Sie können sich alles neu kaufen, wenn Sie erst einmal draußen sind.
Woher wissen Sie, daß ich genügend Geld bei mir habe? fragte sie entrüstet.
Sie sehen so aus, sagte Gregor trocken.
Einen Augenblick lang starrte sie ihn an. Wer sind Sie eigentlich? fragte sie.
Wir haben jetzt keine Zeit, sagte Gregor und zog sie weiter. Die Häuser waren dunkel. Nach elf Uhr lagen die Leute von Rerik in ihren Betten. Ich sehe aus wie jemand, der genügend Geld hat, dachte Judith. Das hat mir noch niemand gesagt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals darüber nachgedacht zu haben, ob sie mehr Geld hätte als andere Leute. Es war alles so selbstverständlich gewesen: die Leinpfadvilla mit Mamas geliebtem Degas im Salon, den Jockeys auf den langbeinigen Pferden über einem Rasen aus dunklem Chrysoprasgrün - hoffentlich konnte Heise das Bild sicher unterbringen -, der Garten mit den portugiesischen Rosen im Sommer, den Georginen und Dahlien im Herbst und mit dem olivseidenen Wasser des
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