Sansibar Oder Der Letzte Grund
von ihr zu fliehen. Überwintern will er mit ihr, weil er nicht weiß, daß Flaggen, die man gestrichen hat, nie wieder so flattern werden wie ehedem. Natürlich gibt es Fahnen, die nach einer Niederlage glorreich wiederauferstehen. Aber es gibt keine Fahnen, die man in Schränke legen und wieder hervorholen kann. Deswegen werden die Fahnen, die man hissen wird, wenn die Anderen einmal nicht mehr herrschen werden, keine glorreichen Banner sein, sondern gefärbte Leinwandstücke, die man wieder erlaubt hat. Wir werden in einer Welt leben, dachte Gregor, in der alle Fahnen gestorben sein werden. Irgendwann später, sehr lange Zeit darnach, wird es vielleicht neue Fahnen geben, echte Fahnen, aber ich bin mir nicht sicher, dachte er, ob es nicht besser wäre, wenn es überhaupt keine mehr gäbe. Kann man in einer Welt leben, in der die Flaggenmasten leer stehen? Ich werde diese Frage später entscheiden, dachte Gregor, jetzt muß ich mich erst einmal mit der Tatsache abfinden, daß ich von hier nicht wegkomme. Er beobachtete Knudsen, der nun begann, ungeduldig zu werden, der ihn offensichtlich loswerden wollte. Knudsen konnte ihn, Gregor, nicht leiden, das war klar; für Knudsen bin ich der Mann vom ZK, der sich drücken will, während er der einfache Genosse ist, der sich nicht drükken kann. Knudsen konnte sich nicht drücken, vielleicht mußte er bei der Frau bleiben, die irrsinnig war, wie der Pfarrer erzählt hatte, vielleicht konnte er sich nur einfach nicht vorstellen, was er nach seiner Flucht tun sollte, wie das Leben eines Mannes verlaufen sollte, der kein Boot mehr hatte. Was immer auch die Gründe waren, die Knudsen davon abhielten, zum Komplizen seines Verrats zu werden, - sie mußten sich gegen Gregor richten, gegen eine Hilfe bei Gregors Flucht, gegen die Teilnahme am Schicksal eines Mannes, der eine Flucht nur für sich selbst plante, der arrogant eingestanden hatte, daß er sich nicht mehr gebunden fühlte, der frei für sich allein sein wollte, der praktisch schon frei war. Gregor wußte jetzt, daß Knudsen zurückkehren mußte, denn Knudsen wollte gar nicht frei sein, - er wollte resignieren, still werden, sitzen und schweigen, aber nicht wie der Genosse Klosterschüler. Der saß und las schweigend, aber nur, um eines Tages aufzustehen und fortzugehen. Dafür war Knudsen zu alt. Nein, nicht zu alt. Man war niemals zu alt, um etwas Entscheidendes zu tun. Außer, wenn irgend etwas in einem kaputt gegangen war. Knudsen war ein harter Mann. Knudsen war ein gebrochener Mann. Gregor fragte: Warum machen wir denn die Geschichte mit dem Boot, wenn man auch zu Fuß dorthin kommen kann, wo du mich erwartest? Dann brauchen wir doch den Jungen nicht aufs Spiel zu setzen.
Er bettelt mich wenigstens nicht weiter an, ihn mitzunehmen, dachte Knudsen. Zu Fuß brauchst du eine Stunde länger, sagte er, und du würdest den Weg in der Nacht nicht finden. Es sind Wasserläufe dazwischen, aber die seichten Stellen kann man nur bei Tag erkennen. Und ich muß mit dem Boot weg sein, solange es noch dunkel ist.
Gregor nickte. Er überlegte, ob er Knudsen noch das letzte sagen solle: Ich bringe jemand mit. Ein Mädchen. Ein jüdisches Mädchen. Du mußt es auch noch mit hinüber nehmen. Aber er wußte nicht, wie Knudsen darauf reagieren würde. Es war möglich, daß er nichts weiter sagte als: Geht in Ordnung. Es konnte sein, daß die Rettung eines Mädchens ihn zu einem Gefühl bewegen würde, wie es die Rettung jenes Dings, das er einen Götzen nannte, nicht hervorrief. Aber es war auch möglich, daß er explodierte, daß der Auftritt einer neuen Figur zu viel für ihn wurde, daß die Aktion, auf die er sich nur widerwillig eingelassen hatte, dadurch für ihn zu kompliziert wurde, zu gefahrvoll und nicht mehr zu durchschauen. Und wenn Gregor es ihm jetzt sagte, gab er Knudsen die Möglichkeit, die ganze Sache noch im letzten Moment hinzuschmeißen. Das Risiko, daß Knudsen absprang, wenn man noch mehr von ihm verlangte, war zu groß. Er mußte es riskieren, Knudsen vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Gregor wandte sich ab und trat wieder auf den festen Boden des Kais hinauf. Also dann bis nachher, sagte er zu Knudsen, der ihm keine Antwort gab. Er ging am Rand der Kaimauer entlang davon; diesmal achtete er darauf, daß er nicht in die hellen, runden Kreise des Bogenlampenlichtes geriet.
Knudsen steckte die Pfeife in die Tasche und öffnete die Luke zu dem Raum, in dem der Motor stand. Er stieg hinab und prüfte die
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