Sansibar Oder Der Letzte Grund
neun. Ich muß auch noch dem Vikar Bescheid sagen, überlegte er, es ist Freitag, und er muß sich sofort an die Sonntagspredigt machen. Und die Haushälterin muß den kleinen Koffer packen, etwas Wäsche und meine Toilettensachen. Man muß sich ja die Folgen genau überlegen, dachte er, wie stehe ich denn vor der Stadt da, wenn ich morgen früh wie ein gemeiner Verbrecher abgeführt werde, schließlich bin ich der Pfarrer Helander, der angesehenste Geistliche der Stadt, ein Mann, der für sein Vaterland gekämpft hat, die Leute würden gar nicht verstehen, was geschehen ist, und niemand würde es ihnen sagen - es wäre kein guter Abschluß für mich und für sie. Das Klinikbett würden sie verstehen, es würde sie sogar erschüttern, das Krankenzimmer in Rostock würde voller Herbstblumen aus den Gärten von Rerik sein.
Genau sein, dachte der Pfarrer, was die Leute denken, ist mir eigentlich egal. Nicht ihretwegen habe ich den Arzt kommen lassen, die höhere Gewalt, die über meinen Körper befiehlt. Sondern der Folter und der Einsamkeit wegen. Denn die Folter wird kommen, und ich werde allein sein in ihr. Sie werden mich schlagen lassen, die Anderen, aus Rache und um in Erfahrung zu bringen, wo ich die Figur versteckt halte, und in der Folter wird die Wunde an meinem Beinstumpf aufbrechen, ich werde auch in den Stunden, in denen ich nicht geschlagen werde, vor Schmerzen wimmernd in einer Zelle liegen oder auf der Pritsche in irgendeiner Lagerbaracke, nichts mehr werde ich sein als ein stöhnendes Stück Fleisch, das man am Ende auf ein Bett schmeißen wird, um es verrecken zu lassen. Ein verreckender Körper, den vielleicht ein barmherziger Gefängnisarzt zuletzt in Morphium hüllt, so daß das Gehirn, das in diesem Körper lebte, nicht einmal mehr würde beten können. Nein, dachte Helander heftig und verzweifelt, das kann der kleine Schüler in meiner Kirche nicht von mir verlangen, daß ich so viel für ihn tue.
Drei, drei, neun. Er mußte nach dem Taxi telefonieren. Er hatte Angst, aber er war dennoch bei klaren Sinnen, und er hatte sich jetzt fest entschlossen, die Folter nicht auf sich zu nehmen. Weder Gott noch der Klosterschüler konnten von ihm verlangen, daß er seinen Körper den Peitschen oder Gummischläuchen der Anderen aussetzte. Wie hatte er sich bisher den Sieg der Anderen erklärt? Sehr einfach - Gott war abwesend, er lebte in der größten überhaupt denkbaren Ferne, und die Welt war das Reich des Satans. Die Lehre des großen Kirchenmannes aus der Schweiz, der Helander anhing, war so einfach wie überzeugend. Sie erklärte, warum Gott die Welt als einen schalltoten Raum konstruiert hatte. In einem solchen Raum konnte man Gebete nur für sich selbst sprechen, nur in die eigene Seele hineinflüstern. Keinesfalls durfte man sich einbilden, von Gott gehört zu werden. Man betete nur, weil man wußte, daß es Gott gab; er weilte zwar in unerreichbarer Ferne, aber es gab ihn, er war nicht etwa tot. Gänzlich sinnlos aber war es, Schreie auszustoßen, die Schreie eines Gefolterten. Natürlich hatte man dem Satan Widerstand zu leisten, man hatte zu predigen, aber nur, um die Leute darauf hinzuweisen, daß die Welt dem Teufel gehöre und daß Gott ferne sei. Es gab keinen Trost, und es machte die Größe dieser Lehre aus, daß sie keinen Trost gab. Aber sie machte auch das Martyrium sinnlos; welchen Sinn hatte es, sich foltern zu lassen und zu schreien, wenn Gott davon einfach keine Kenntnis nahm, wenn die Wände des schalltoten Raumes der Welt die Schreie glatt verschluckten? Merkwürdig, dachte Helander, daß die Aufrechtesten unter seinen Amtsbrüdern diejenigen waren, die der trostlosen Lehre anhingen. Die den Sinn des Martyriums leugneten, gerieten am leichtesten in Verfolgung und Folter. Sie hatten sich quälen zu lassen, nicht für die Nähe Gottes, sondern für seine Ferne; sie hatten zu sterben, weil sie das Reich der Anderen ohne jeden Kompromiß zum Reich des Bösen erklärten, wie die Lehre es vorschrieb. Sie starben trostlos einen absurden Tod; es gab für sie keine Gewißheit der Gnade.
Helander versank vor dem Telefonapparat auf seinem Schreibtisch ins Nachdenken. Nach einer Weile löschte er die Stehlampe aus und, wartete, bis die Umrisse des Querschiffs der Georgenkirche vor seinem Fenster sichtbar wurden. Das Licht einer Straßenlaterne verlor sich auf der Backsteinwand; weiter oben schob sich die schwarze Masse vor ein Stück Himmel, in dem ein Stern zu sehen war. Seitdem der
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