Sansibar Oder Der Letzte Grund
Pfarrer hier wohnte, hatte er nie die Vorhänge seines Arbeitszimmers zuzuziehen brauchen; er hatte kein anderes Gegenüber als die fensterlose, jahrhundertealte Wand, auf der nie ein anderes Zeichen erschien als die Spur des Regens oder der Sonne, des Tages oder der Nacht, die Sprache von Vogelrufen oder einer unter Mauern verschütteten Toccata. Da drinnen sitzt er und wartet jetzt, dachte Helander, mein kleiner Mönch, der das innerste Heiligtum meiner Kirche ist, weil die Anderen ihn holen wollen. Ihn wollen die Teufel holen, nicht das Christusbild auf dem Altar wollen sie haben, das Bild Gottes, sondern das Bild des jungen Lesers, des Gottesschülers. Es ist unmöglich, ihn den Teufeln zu überlassen, dachte der Pfarrer. Es ist ebenso unmöglich, daß ich dieses Martyrium auf mich nehme. Er lachte beinahe, als er erkannte, wie genau sich in ihm Angst und Mut die Waage hielten. Die Schalen standen sich zitternd gegenüber.
Ich brauche nur den Telefonhörer abzunehmen und die Sache ist entschieden, überlegte er. Drei, drei, neun, und der Satan hat ein Heiligtum in den Krallen. Was kümmerte es den abwesenden Gott, der vielleicht nur ein fauler Gott war? Der trieb sich vielleicht gerade auf dem Orion herum, statt auf der Erde, oder wenn er auf der Erde war, dann kreuzte er vielleicht mit einer Jacht vor Honolulu, statt sich auf Knudsens Boot niederzulassen und den kleinen Mönch aus Rerik zu retten.
Wenn er aber den Telefonhörer nicht abnahm, dann… Plötzlich hielt der Pfarrer den Atem an. Er dachte: wenn ich den Telefonhörer nicht abnehme, dann ist Gott vielleicht gar nicht so fern, wie ich immer denke. Dann ist er vielleicht ganz nah?
Die Frage wischte vorbei wie ein Irrlicht. Danach brachte Pfarrer Helander die Bestandteile seines Denkens nicht mehr recht zusammen. Zwischen den Schmerzen in seinem Beinstumpf und dem Überfall einer grau daherzischenden Müdigkeit tauchten nur noch Bruchstücke von Gedanken in ihm auf, deus absconditus, dachte er, und das Reich des Satans, der hohe Herr und die Folter, die harte Lehre und die Mauer ohne Schrift, das Martyrium und das Klinikbett, das Klinikbett, das Klinikbett, der Tod und der Tod und der Tod.
Statt nach dem Telefonhörer zu greifen, ließ er seinen Kopf auf die Arme sinken, die randlose, in der Nacht nicht mehr funkelnde Brille verschob sich, während er einnickte. Ich muß sterben, hatte er gerade noch gedacht, ich bin ein zum Tode Verurteilter, ich bin am Ende meines Lebens angelangt, aber während er den allerunerträglichsten Gedanken gedacht hatte, den es gibt, den Gedanken, der alle Gedanken beendigt, den blinden und grauen Gedanken, hinter dem es nichts mehr gibt und die Spiegel verlöschen, war er eingenickt.
Etwas später wachte er wieder auf, von Schmerzen gepeinigt. Er suchte in seiner Schreibtischschublade nach den Tabletten. Er nahm drei Stück aus der Schachtel. Dann rief er nach seiner Haushälterin und bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen.
Der Junge
Er befestigte künstliche Regenwürmer am Vorfach einer Schnurrolle, die über ein gekreuztes Stück Holz gewickelt war; alle Jungen auf den Booten betrieben mit so beköderten Schnüren ein wenig Privatangelei, wenn es sonst nichts zu tun gab. Er saß windgeschützt im Cockpit und dachte: wenn Knudsen einen Passagier an Bord nimmt, dann will er ihn irgendwo hinbringen und sicher nicht an unseren Teil der Küste, sondern hinüber, auf die andere Seite der Ostsee. Hätt ich Knudsen nie zugetraut, dachte er. Aber warum, überlegte er, warum muß man einen Mann heimlich über die Ostsee schaffen? Er wußte, daß die Fischer manchmal Kaffee und Tee schmuggelten, die sie von dänischen Booten draußen auf der See übernahmen - und Knudsen beteiligte sich an so etwas nie -, aber einen Mann? Und plötzlich dachte der Junge: dann stimmen die Bücher ja doch noch, dann gibt es ja auch heute noch solche Sachen, wie sie im Huckleberry Finn und in der Schatzinsel und im Moby Dick erzählt werden. Toll, dachte der Junge, und so was machte Knudsen.
Judith - Gregor — Helander
Als sie wieder auf dem Kai stand, den Dampfer in ihrem Rükken, holte Judith, obwohl sie nicht mehr weinte, automatisch ihr Taschentuch aus der Handtasche und preßte es gegen ihr Gesicht. Auf dem Kai war es dunkel. Nur dort, wo Straßen auf den Platz mündeten, brannten Gaslaternen. Die Laterne über dem Eingang zum ›Wappen von Wisman‹ brannte noch, und die Fenster der Gaststube leuchteten rötlich. Der Kai war leer von
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