Sansibar Oder Der Letzte Grund
Alsterkanals, weidenüberhangen der stille, kostbare Kanal, man hatte niemals Aufwand getrieben, Papa hatte sich zeit seines Lebens kein Auto geleistet, - aber trotzdem sah sie also nach Geld aus. Sah sie auch nach Mamas Tod aus, nach dem Gift in der Tasse, nach der Flucht im Auftrag einer toten Mutter, die sicherlich noch nicht einmal beerdigt worden war, über der man heute nachmittag erst den Sargdeckel geschlossen haben mochte? Plötzlich fiel ihr ein, daß Mamas Foto noch auf dem Kopfkissen ihres Bettes im Hotelzimmer lag.
Was ist los? hörte sie ihren Begleiter fragen, als sie jäh stehenblieb.
Mamas Bild, flüsterte sie, es liegt noch im Zimmer.
Wann sind Sie denn getürmt? fragte Gregor.
Getürmt, dachte Judith, er nennt das, was ich getan habe, türmen. Türmen, das paßte zu Flittchen. Paßt es zu mir? überlegte sie.
Gestern, antwortete sie.
Dann wird man morgen früh anhand des Bildes feststellen, wo Sie sich heute nacht aufgehalten haben, sagte Gregor. Das heißt, man wird Sie sehr schnell identifiziert haben.
Er spürte, wie empört sie war, ohne den Grund ihrer Empörung zu ahnen. Aber ich habe doch nicht deswegen an das Bild gedacht, sagte sie. Ich muß es mit mir nehmen. Es ist das einzige, was ich von meiner Mutter habe. Nichts zu machen, erwiderte er. Sie können nicht deswegen alles aufs Spiel setzen. Ihre Mutter kann Ihnen ein anderes Bild schicken, später, wenn Sie in Sicherheit sind. - Oder lebt sie nicht mehr? fügte er hinzu.
Sie ist tot, sagte Judith.
Dann müssen Sie sich an Verwandte wenden, sagte Gregor. Es wird sicher eine ganze Menge Bilder von Ihrer Mutter geben. Er wunderte sich selbst über die Geduld, die er auf einmal aufbrachte. Was bewog ihn, hier stehenzubleiben und kostbare Zeit zu verschwenden, um sich über ein vergessenes Foto zu unterhalten, mitten in einer Aktion, an der das Leben mehrerer Menschen hing und das Schicksal des lesenden jungen Mannes in der Kirche. Andererseits, dachte er, war der Lesende auch nur ein Bild, und vielleicht war das Bild der Mutter dieses Mädchens genausoviel wert wie das Bild eines jungen Burschen, der las. Er sah die dunklen Haare des Mädchens flattern, vom Licht einer Gaslaterne durchstrahlt, das sich an ihrer Stirn, ihrer Nase, ihren Lippen brach, und er zögerte einen Augenblick, ehe er Judith zwang, weiterzugehen.
Er nahm nicht wahr, daß er mit diesem Zögern ihren Widerstand gegen ihn gebrochen hatte; er spürte nur, daß sie langsamer ging, nicht mehr so nervös; daß sie sich genau an seiner Seite hielt, während sie weitergingen. Gregor bog so schnell wie möglich von der Nicolaigasse ab, in das Gassengewirr, das die Georgenkirche umgab. Es war sehr dunkel in den engen Straßen, und Gregor suchte den Weg nach dem Gefühl oder nach dem manchmal in Ausschnitten auftauchenden Turm der Kirche, dem schwarzen Steinbalken vor dem nicht so ganz schwarzen Nachthimmel. Übrigens war in den Wohngassen da und dort noch ein Fenster erleuchtet, während in der Geschäftsstraße alles dunkel gewesen war, aber auf dem Georgenkirchplatz waren wieder alle Häuser schwarz, nur zwei Gaslaternen brannten, eine an einer Straßenmündung, die andere vor dem Hauptportal der Kirche. Obschon die Häuser zu schlafen schienen, vermied Gregor es, quer über den Platz zu gehen, er hielt sich an den äußeren Rand, ging an den Häusern entlang — wie er es bereits am Nachmittag getan hatte-, bis er an die Südseite der Kirche gelangte. Er sah schon von weitem das erleuchtete Fenster in der Pfarrei. Es warf seinen Schein bis auf die Stufen, die zum Seiteneingang der Kirche hinaufführten, und in der Aura des Lichts konnte Gregor feststellen, daß sein Fahrrad noch immer an der Mauer des Pfarramts lehnte; die Lenkstange glänzte schwach, von dem gelben Schimmer getroffen, dem gleichen gelben Schimmer, in den er, zusammen mit dem Mädchen, treten mußte, um die Kirchentür zu erreichen. Das Fenster lag übrigens zu hoch, als daß er in das Innere des Zimmers hätte blicken können.
Alles hatte Judith erwartet - nein, nichts habe ich erwartet, korrigierte sie sich -, nur nicht, in eine Kirche geführt zu werden, in eine dieser Kirchen, die sie fürchtete, seitdem sie ihre Türme erblickt hatte. Daß der junge Mann, ihr Begleiter, einen schweren Schlüssel aus der Tasche holte und die Kirchentür aufschloß, kam ihr unerklärlich vor. Dennoch hatte sie auch jetzt nicht das Gefühl, ein Abenteuer zu erleben, - sie empfand die Gefahr, in der sie lebte, als
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