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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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so wirklich, daß ihr der Gedanke, die Vorgänge dieser Nacht könnten möglicherweise etwas Romantisches an sich haben, fern blieb. Sie fühlte das Wunder, aber sie wunderte sich nicht darüber. Sie glitt durch den Spalt der geöffneten Tür von St. Georgen in das Geheimnis, einem Fisch gleich, der aus der grünen Helligkeit des offenen Wassers unter den Schatten eines Steins taucht. Geblendet von Dunkelheit blieb sie stehen. Aber als Gregor die Tür hinter sich zugemacht hatte - es fiel ihr auf, daß er sie nicht abschloß -, fragte sie endlich: Was bedeutet das alles? Sie müssen mir sagen, was Sie mit mir vorhaben!
    Sie erschrak über das hallende Echo ihrer Stimme im Raum und sie hörte den Fremden sagen: Sie dürfen hier nur flüstern!
    Gregor hielt sich entfernt von ihr. Kommen Sie mir nach! sagte er. Sie erkannte ihn schließlich als schattenhafte Figur, und sie bewegte sich tastend in der Richtung, die er voranging.
    Gregor ging bis zu dem Pfeiler der Vierung, an dem der ›Lesende Klosterschüler‹ saß. Hier war es am hellsten, alle sie über den Wänden, auch Judith erreichte die Stelle, sie konnte ein paar Stufen unterscheiden, die zum Lettner emporführten, und sie setzte sich auf die unterste; sie spürte plötzlich, wie müde sie war, und sie lehnte ihren Kopf an den Steinsockel, auf dem der Schüler saß und las. Aber unter ihrer Müdigkeit lebte ihre zähe weibliche Energie weiter.
    Sie müssen mir antworten! sagte sie. Ich habe jetzt Zeit, dachte sie, solange ich in dieser Kirche bin, kann mir nichts geschehen. Sie war über diesen Gedanken so wenig erstaunt wie darüber, daß man sie hierher geführt hatte - das Überwältigende war zugleich das Selbstverständliche: Kirchen waren zum Schutz da. Und sie war noch so jung, daß sie hoffte, der Unbekannte würde sich als ein Sendbote der Kirche entpuppen; vielleicht hat die Kirche jetzt eine Art Mission zum Schutz der Flüchtenden eingerichtet, dachte sie, und: Wenn Mama das geahnt hätte!
    Sie sind doch Jüdin? fragte Gregor.
    Ich bin getauft, erwiderte sie. Schon mein Vater war getauft. Sie sagte es ein wenig ängstlich, so, als wolle sie dem Boten der Kirche, der er doch sicher war, ein gutes Zeugnis vorweisen.
    Getauft, sagte Gregor verächtlich, das macht doch keinen Unterschied. Den Anderen ist das ganz egal, ob Sie getauft sind oder nicht.
    Ich weiß, sagte Judith. Und dann entschloß sie sich, tapfer zu sein. Mir ist es übrigens auch egal, sagte sie. Ich bin seit meiner Konfirmation nicht mehr zur Kirche gegangen. Ich weiß nicht, ob ich an irgend etwas glaube. An Gott schon. Und seit ein paar Jahren weiß ich, daß ich eine Jüdin bin. Früher dachte ich, ich sei eine Deutsche. Aber da war ich noch ein Kind. Seitdem hat man mich zu einer Jüdin gemacht. Sie schwieg, dann sagte sie noch: Ich wollte Ihnen das sagen, ehe Sie mich vielleicht retten. Sie brauchen nichts für mich zu tun, wenn Sie nicht wollen.
    Ach so, sagte Gregor. Er begriff, wofür sie ihn hielt. Aber er hatte keine Lust, Erklärungen abzugeben. Er sagte nur, um sie zu beruhigen: Das macht auch keinen Unterschied. Hätte ich sagen sollen, dachte er, Sie täuschen sich, ich bin kein Christ, ich bin Kommunist? Es hätte nicht gestimmt, denn ich bin kein Kommunist mehr, ich bin ein Deserteur. Ich bin auch kein Deserteur, sondern ein Mann, der begrenzte kleine Aktionen durchführt, im eigenen Auftrag. Und dann begann es ihm zu dämmern, daß er sich zu diesem jungen Mädchen in einer Beziehung befand, vor der Worte wie Christ, Kommunist, Deserteur, Aktivist verblaßten: ihr gegenüber war er überhaupt nichts anderes als der junge Mann, der sich vor ein junges Mädchen stellte — eine klassische Rolle, wie er ironisch konstatierte. Deswegen war er vorhin auf der Straße stehengeblieben und hatte sich etwas von einem Foto erzählen lassen, flatternde dunkle Haare betrachtend und ein aus Gaslicht und Schwärze zart und unerbittlich geformtes Profil.
    Weshalb sind Sie eigentlich auf der Flucht? fragte er.
    Auf der Flucht, sagt er, dachte Judith. Er sagt nicht mehr: getürmt. Sie empfand eine Spur von Vertrauen, wie vorhin, als er auf der Straße stehengeblieben war, nachdem sie begonnen hatte, über den Verlust des Bildes ihrer Mutter zu klagen. Sie erzählte ihm die Geschichte von Mamas Sterben.
    Gestern war das! sagte er betroffen. Mein Gott!
    Woher wußten Sie es? fragte Judith.
    Was habe ich gewußt? sagte Gregor erstaunt. Was meinen Sie?
    Daß ich Jüdin bin, sagte

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