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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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kündigt sich an.
Jetzt fällt das Sträßchen steiler ab. Wir sind am Rande des Lottales. Es führt durch einen Wald mit Edelkastanien. Ihre Früchte haben in der Ernährung der hiesigen Menschen vor Zeiten eine wichtige Rolle gespielt. Heute bleiben sie im üppig wuchernden Unterholz liegen.
An der steigenden Temperatur spüren wir, daß wir schon viel Höhe verloren haben. Es geht jetzt durch kleine Weiler, zwischen Wiesen, Feldern und Rebbergen der Talsohle zu. Kurz nach Mittag sind wir in Saint-Côme-d’Olt. Die Straßen der kleinen Stadt sind fast menschenleer. Die Bewohner sind vor der brütenden Mittagshitze in die Häuser geflohen. Wir finden etwas Kühle im Halbdunkel der großen gotischen Stadtkirche. Dann aber meldet sich der Körper. Wo gibt es etwas zu trinken? Am Hauptplatz ist ein einziges Straßencafé geöffnet. Unter seinem Sonnendach finden wir, was wir suchen.
Zugleich überblicken wir die Mitte des Städtchens. Die Zeit ist an ihm vorbeigegangen, zu seinem Glück oder Unglück. Die Häuser säumen den Platz in einer natürlich bewegten Linie, die organisches Wachstum eher als geometrische Planung verrät. Große gotische Torbogen führen in stille Hinterhöfe, in denen sich das geheimnisvolle Innenleben der alten Häuser abspielt. Unter den Dachgiebeln hängen noch die Seilzüge zum Aufziehen der Vorräte. Keinerlei Verkehr stört die Stille des Mittags. Auch uns will Schläfrigkeit befallen.
Dazu ist es jedoch zu früh. Wir raffen uns auf und nehmen das letzte Stück des Tages in Angriff. Wir müssen noch talauswärts nach Espalion wandern. Wir versuchen es auf der linken Talseite, in der Hoffnung, hier etwas mehr Schatten zu finden. Vergebliche Hoffnung, es ist auch hier sehr heiß. Der Lot, den man fast überall zu Fuß durchwaten kann, wenn man nur die Hosenstöße heraufkrempelt, fließt zum Glück immer wieder durch Auenwäldchen, die uns von Zeit zu Zeit etwas Schatten spenden.
Am Rande von Espalion stoßen wir auf die berühmte »Église de Perse«, die ehemalige Stadtkirche. Ihr rötlicher Stein leuchtet in der Sonne des späten Nachmittags. Die Kirche hat eine interessante Glockenmauer mit fünf nebeneinanderhängenden Glocken. Von der Bergseite steigt man tief in ein urtümliches, romanisches Kirchenschiff ab.
Unsere Aufnahmefähigkeit für Kunsthistorie hat jetzt ihre Grenzen. Wir möchten unsere Rucksäcke und die verschwitzten Kleider loswerden, wissen auch, wo wir hinwollen: zum Hotel »des alten Herrn von Espalion«, an der Straßenecke, unweit der Brücke über den Lot. In einer Viertelstunde sind wir dort. Der alte Herr im dunklen, nur leicht verbeulten Anzug hat Platz für uns. Er regiert sein Haus von der imposanten Rezeptionstheke aus. Die Eingangshalle atmet den Stil von 1880. Seinen bestimmten, aber wohlwollenden Anordnungen wagt niemand zu widersprechen. Das Ordensbändchen, das er im Knopfloch trägt, verrät den Ursprung seiner Ordnungsgedanken. Aber wir sind in seinem Hause gut aufgehoben. Seine Angestellten sind freundliche Menschen, die ihrerseits Charakter haben.
Auch die Runde vom Vorabend ist wieder vollständig. Jacques, Stéfane und Béatrice ist es ähnlich wie uns ergangen. Alle haben wir unter der Hitze des Abstiegs und des anschließenden Marsches nach Espalion gelitten. In der Obhut des alten Herrn und seiner vorzüglichen Küche leben Leib und Seele wieder auf. Die »Tarte renversée aux pommes caramélisées« verleiht dem Nachtisch sogar einen Hauch von Sinnenfreude, die der Askese unseres pilgerlichen Daseins für heute die Kanten bricht.
     

Am Ziel der Reise: Vater, Mutter?
8. Tag: Von Espalion nach Campuac
 
Der Lot fließt nach Westen zur Garonne hin. Wir werden diesem Fluß nun während mehrerer Tage manchmal direkt und manchmal auf Distanz folgen, zuerst noch durch die Ausläufer der Cevennen und dann durch die sogenannten Causses, eine Landschaft von Tafelbergen mit tief eingeschnittenen Tälern. Auf diesem Wege treffen wir in zwei Tagen auf eine weltberühmte Station am Jakobsweg, auf das Städtchen Conques in einem einsamen Seitental des Lot.
Heute verlassen wir zum ersten Mal den Wanderweg Nr. 65, an dem keine passende Unterkunft liegt, und folgen der Nr. 6, die nach etwas mehr als 20 Kilometern in Campuac zu einem kleinen Gasthof führt.
Vorerst folgen wir dem Lot am linken Rand seiner Talebene. Es hat in der Nacht geregnet, und der Himmel ist weiterhin tief verhängt. Nicht viel zu sehen; Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Haben

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