Santiago, Santiago
wir auch schon ein Stück inneren Weges zurückgelegt? Sind wir ein Stück weitergekommen? Meine Fortschritte sind nicht groß, jedenfalls nicht in einem philosophischen oder theologischen Sinne. Wenn ich zu sinnen beginne, tauchen, für mich selbst überraschend, eher Bilder aus meiner Jugend auf, Bilder der eigenen Eltern, die seit vielen Jahren verstorben sind. Keine »Verarbeitung unerledigter Probleme«, eher ein Wiederaufleben von Gefühlen, die ich in ihrer Nähe erlebt habe, ein erneutes Aufsteigen elementarer Impulse der Zuneigung und der Zärtlichkeit, nicht in ihrer frühen, sondern in ihrer reifen Form. Ist die Sehnsucht nach einem Jenseits die Sehnsucht, Mutter und Vater dort wieder zu finden? Ihnen dort wieder nahe zu sein? In Augustins »Cité de Dieu«? Am Ziel der Reise?
Ein Blick auf den Wanderführer unterbricht den Gedankengang. Da heißt es, daß hinten in einem Seitental die bedeutende Kirche von Saint-Pierre-de-Bessuéjouls liege. Es ist noch früher Morgen, wir wagen den Abstecher, folgen einem kleinen Flüßchen aufwärts und kommen zu einer Häusergruppe, die noch im tiefen Schlafe liegt. Jenseits des Flüßchens, halb von hohen Bäumen verdeckt, ist der Baukörper der Kirche erkennbar. Wie wir vor ihr stehen, haben wir den Eindruck eines sehr alten Gotteshauses. Das hintere Querschiff ist irgendwann einmal in ein Wohnhaus umgebaut worden. Die Kirche war sicher mehrmals aufgegeben, auch heute hat sie keinen Pfarrer mehr. Ihre Fundamente scheinen ins 9. Jahrhundert zurückzureichen. Der Boden ist im Verlaufe der Zeit so sehr in die Höhe gewachsen, daß die ältesten Säulen bis zu den Kapitellen im Boden stecken. Darüber romanische und gotische Elemente. Vergangenheit umgibt uns hier in dinglicher Konkretheit.
Aber wir müssen weiter, talauswärts. Nach einer Stunde kommen wir am Ausgang eines anderen Tälchens nach Verrières, einem kleinen Weiler, romantisch wie aus dem Bilderbuch. Jenseits der steinernen Brücke über den Dorfbach steigt der Weg zu einer Anhöhe auf. Von dort blicken wir auf Estaing hinunter, Giscards malerisches Heimatstädtchen. Wir lassen es hinter uns liegen, folgen dem Höhenrücken nach Süden. Es geht durch einen jungen Eichenwald und hinaus in abgeerntete Getreidefelder. Dann wird der Höhenrücken zur immer schmaleren Kante, das Sträßlein zum Weg, der Weg zur Fahrspur. Schließlich fällt er als holpriger Pfad steil ab; wir denken: ins Nichts.
In Wirklichkeit geraten wir in ein unübersichtliches Waldgebiet, in dem die Markierung des Weges fast vollständig fehlt. Wir wissen nicht mehr, wo wir sind, sehen nur noch Wald und bewaldete Berghänge um uns. Da hören wir Rufe, die sich von hinten nähern. Mit der Zeit verstehen wir sie: Dadurch geht es. Paßt auf bei dem Stacheldraht. Und: Komm schon, Inge. Germanische, eher rauhe Laute. Sie kommen von einer Reitergruppe aus dem Ruhrgebiet, die uns grüßt und überholt.
Ich habe nicht nach dem Weg gefragt, denn fast im gleichen Moment sind über uns am Horizont einige alte Häuser aufgetaucht. Es ist ein verlorener Weiler am Rande des Abhangs, zu dem wir aufsteigen. Aber es gibt da wenigstens einen Wegweiser, der uns auf die Hauptstraße nach Campuac zurückführt. Für diesmal sind wir sogar mit ihrem Asphalt versöhnt.
Das Dorf Campuac wirkt stattlich, und seine Menschen begegnen uns freundlich. Wir meinen, hier noch einen Nachklang von der alten Gastfreundschaft gegenüber dem Pilger zu spüren. Die Häuser sind im weiten Oval um den Hauptplatz angelegt. In seiner Mitte steht die Kirche. Bis vor wenigen Jahrzehnten fand hier monatlich ein großer Viehmarkt statt. Das ist allerdings vorbei. Doch es gibt einige neue Läden, und auch der Gasthof ist kürzlich von einem jungen Ehepaar neu eröffnet worden. Sie haben beide in der Schweiz gearbeitet und sind stolz, uns zu zeigen, daß es auch in der französischen Provinz ein tüchtiges Gastgewerbe gibt. Dem stimmen wir gerne zu. Wir hätten nichts Besseres gewünscht.
Blaue Sterne am Wegrand
9. Tag: Von Campuac nach Conques
Campuac liegt nicht an der »Grande Randonnée 65«, die dem historischen Jakobsweg folgt. Diese beschreibt einen großen Bogen nach Norden, den wir abgekürzt haben. Wie nun auf diesen Wanderweg zurückkommen? Das fragen wir uns in der Morgendämmerung vor dem Gasthof. Weit und breit ist keine lebendige Seele zu sehen.
Doch da kommt ein Lieferwagen angefahren, und der junge Fahrer wirft ein Zeitungspaket vor eine Ladentür. Wir fragen
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