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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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ihn, was er von der Route hält, die wir auf der Landkarte ausgemacht haben. Er rät uns davon ab und schlägt uns statt dessen vor, einige Kilometer mit ihm zu fahren. Bei Golinhac kämen wir dann wieder auf unseren Weg. Wir blicken einander an: Sollen wir? Bisher haben wir jede Einladung zum Mitfahren standhaft abgelehnt. Aber man kann nicht immer stark sein, der heilige Jakob wird uns verzeihen.
So fahren wir im Kastenwagen ein Stück weit mit unserem jungen Helfer und beobachten, wie er seine Zeitungsbündel, ohne anzuhalten, vor die Türen der Kunden wirft. An einer Kreuzung bremst er, sagt, er müsse hier geradeaus, unser Weg zweige hier ab. Wir danken ihm fürs Mitnehmen und verabschieden uns. Er macht kein Wesens, gibt Gas und braust davon.
Es ist immer noch früh. Vor uns liegt, leicht vertieft, eine Ebene. Ein Nebelchen schwebt darüber. Es hat das Gras genetzt. Der Feldweg geht in einen schmalen Pfad zwischen hohen Hecken über. Taunasse Zweige ragen in den Weg, auch an den Kräutern glänzen die Tropfen. Es gibt kein Ausweichen, wir werden auch heute eingenäßt. Die Kälte schleicht über unsere Knie hinauf. Da hilft nur kräftiges Vorwärtsschreiten. Schließlich geht hinter uns die Sonne auf. In zwei Stunden werden wir wieder trocken sein.
Wir kommen an den Rand der Ebene. Vor uns breitet sich eine weite Talmulde. Auf ihrem Grunde liegt noch die Dämmerung, aber ihre Gegenseite glänzt schon im Morgenlicht. Wir tauchen in den Schatten des diesseitigen Abhanges. Die Straße führt in einigen Kehren abwärts. Wie die Sonne die Mitte der Talsenke erreicht, zeichnet sich vor uns ein schmuckes Städtchen ab, das sich an einen kleinen Hügel lehnt. Es ist Espeyrac, der letzte größere Ort vor Conques.
»Espeyrac«: ein liebenswürdiger Name, »Hoffnungsweiler« könnte er auf deutsch heißen. Und so erleben wir auch den Ort. Der Epicier hat seinen Laden schon geöffnet, und der fahrende Bäcker ist auch schon dagewesen. So kommen wir zu unseren Frühstücksbrötchen. Gegenüber gibt es ein ganz kleines Hotel, in dem ein junges Mädchen gerade die Kaffeemaschine in Gang setzt. Wir stellen die Rucksäcke in eine Ecke und holen den »grand café au lait« von der Theke. Wie wir auf die Straße hinausschauen, tauchen unerwartet Stéfane und Béatrice auf. Wir holen sie herein, und es gibt ein heiteres Wiedersehen. Die beiden Frauen sind auf einem anderen Weg hierher gelangt.
Der Weg nach Conques führt aus der Talmulde von Espeyrac heraus auf die Ebene, die wir vor dem Abstieg vor uns im Morgenlicht gesehen haben. Die Vormittagssonne erwärmt nun auch uns, und die Nässe des Tagesanfangs ist bald vergessen. Am Wege blüht die Wegwarte. Ihre blauen Sterne erinnern uns an die Zeit, da sie noch die Wege der Schweiz und Deutschlands säumte. Warum ist sie bei uns verschwunden? Sie ist das Opfer unserer Ordnungsliebe geworden, der allzu gerade gezogenen und allzu sauber gepflegten Wegränder, vielleicht auch der Überdüngung unserer Wiesen.
Eine Herde von schwarz-weiß gefleckten Rindern betrachtet uns aufmerksam über den Gartenzaun. Wie ich ihnen die Ohren zu kraulen versuche, setzen sie erschreckt zurück. Wir sind mit dem Weg, der Landschaft und mit uns selber im Gleichgewicht. Die Kräfte und die Anforderungen des Weges halten sich die Waage. Es geht nun munter auf Conques zu. Die Flurnamen zeigen an, daß wir uns der berühmten Pilgerstation nähern: »Font-romieu«, das ist »Pilgerbrunnen«, »Pressoires«, »Zur Weinpresse«, »Croix torte«, »Beim krummen Kreuz«.
Links von uns fällt die Landschaft jetzt in ein bewaldetes Tal ab. Die flacheren Hänge zeigen Spuren früherer Terrassierung. Die Wiesen sind allerdings zum Teil verunkrautet, und Büsche und junge Waldbäume beginnen darin zu wachsen: die Mönche und die Laienbrüder von Conques drücken dieser Landschaft längst nicht mehr ihr Siegel auf.
Jetzt senkt sich auch die Straße in die Talflanke. Steinige Abkürzungen schneiden ihre Kehren ab. Wir tauchen noch einmal in schattige und feuchte Tunnel von Ästen und Zweigen, die den Hohlweg überdecken. Dann treten wir in bebaute Felder hinaus. An einer Wegbiegung entdecken wir plötzlich schräg unter uns die Turmhelme einer Kirche. Sonst noch nichts, kein Haus, kein Kirchendach. Aber es gibt keinen Zweifel, es muß die Klosterkirche von Conques sein.
Der Weg fällt weiter ab, und jetzt sehen wir schon einen Teil des riesigen Kirchenschiffes. Es wächst aus der Flanke des engen Tales heraus.

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