Santiago, Santiago
eigentlich nur in tieferen Landen erwartet hätten: eine ganze Anzahl nobler Häuser mit den steilen Schieferdächern des 17. Jahrhunderts, saubere Straßen, keine Spuren der Landwirtschaft.
Das Städtchen heißt Nasbinals. Die Kirche am Hauptplatz ist gedrungen wie eine mittelalterliche Burg, mit einem soliden achteckigen Turm über der Vierung. Davor das Kriegerdenkmal aus dem ersten Weltkrieg, der französische Soldat, seine Tricolore pathetisch umfassend. »Allez, enfants de la patrie...«
Oberhalb der Kirche eine repräsentative Häuserzeile. An einem der Häuser heißt es auf einem großen Emailschild »Mairie«, die Nationalflagge ist aufgezogen. Daneben in den gleichen Farben und mit den gleichen Lettern das Schild »École«, dann »Crédit agricole«. Marianne sorgt für ihre Kinder in Naspinals.
Der Bäcker im Laden daneben macht hingegen gar keinen kriegerischen Eindruck. Er trägt eine Baskenmütze und hat seinen Laden eben geöffnet. Ein Schwall süßer Düfte strömt aus der Backstube zu unseren hungrigen Nasen. So werden wir seine ersten Kunden von heute morgen. Er strahlt Wohlwollen aus, empfiehlt uns seine Zuckerbrötchen und freut sich, daß wir seinem Rate folgen.
Es ist doch ein ganz kleines Städtchen. Wir haben die letzten Häuser rasch hinter uns, dann geht es an Feldern vorbei, die durch Trockenmauern abgeteilt sind, schließlich nur noch über Weiden mit Flecken von kräftigem Buchenwald. Der Weg wird immer schmaler. Zuletzt führt nur noch eine Spur über Wiesen aufwärts. Das Gras ist naß vom Tau, unsere Schuhe sind in kürzester Zeit durchweicht. Aber hinter uns steigt die Sonne auf. Unsere Schatten, die sich anfänglich lang vor uns streckten, sind schon kürzer geworden, und es wird allmählich wärmer. Wir kennen diesen Ablauf gut: gegen elf Uhr werden unsere Schuhe wieder trocken und der nasse Tagesbeginn vergessen sein.
Wir haben die 1300 Meter jetzt überschritten, und der Weg wendet sich nach Süden. Nach einer Biegung sehen wir vor uns eine Häusergruppe mit einer Kirche und einem Wehrturm. Es muß das berühmte Aubrac sein, »in loco horroris et vastae solitudinis«, jener Landschaft, die die Pilger des Mittelalters ob ihrer weiten Einsamkeit schreckte.
In der hohen Zeit der Jakobspilgerschaft führte der Weg hier durch ein ummauertes Kloster, das zum Schutze der Pilger errichtet worden war. Im Strohlager seiner Herberge fanden sie Unterkunft, und an seiner Pforte konnten sie die unentgeltliche Gabe einer Brotration in Empfang nehmen, die ihnen bis zum nächsten Etappenort reichen mußte.
Heute stehen hier noch ein Nebengebäude des Klosters, der Wehrturm und die Kirche. Zwei Gasthöfe sind neu dazugekommen. Die Kirche besteht nur aus einem weiten gotischen Kirchenschiff, mit massigen, zwei Meter dicken Mauern und starken, durch Rundbögen verbundenen Strebepfeilern. Das Innere ist fast leer. Nur einige sakrale Figuren stehen dort, wo der Altar sein müßte.
An einer Seitenwand liegt auf einem Tisch das Besucherbuch, in dem Pilger ihre Gedanken eingetragen haben. Ich weiß nicht, ob es meine eigene Gestimmtheit ist, die mich in ihren Worten eine augustinische Sehnsucht vernehmen läßt. Viele gehen nur bis Conques, andere bis Roncesvalles, einige bis Santiago. Alle sind jedoch bewegt von der Unruhe des Herzens, die Augustinus beschrieben hat, und sie suchen einen Ort der Erfüllung, an dem sie innere Ruhe finden. Die irdischen Städte stehen stellvertretend für die »Cité de Dieu«.
Im Turm hängt noch die Glocke, die früher an nebligen Tagen während Stunden geläutet wurde, um den Pilgern, die vom Wege abgekommen waren, die Richtung auf das Kloster von Aubrac und sein rettendes Hospiz zu weisen.
Unser Tag ist allerdings so strahlend, daß wir uns die Ängste der Pilger nur schwer vorstellen können. Wir haben nun den höchsten Punkt auf unserem Weg durch das Zentralmassiv überschritten. Vor uns liegt in der Entfernung eines Tagesmarsches das Tal des Lot. Dann müssen wir die Tafellandschaft der Causses durchwandern und in das Tal der Garonne hinuntersteigen. Jenseits warten die Pyrenäen und hinter diesen die Weiten Spaniens...
Vorerst gilt es aber, den Abstieg nach Saint-Chély in Angriff zu nehmen. Wir folgen lange dem rechten Hang eines Bergtales. Der Weg ist offensichtlich sehr alt, ein Stück der Römerstraße von Toulouse nach Lyon. Indem wir allmählich tiefer kommen, wird die Vegetation reicher und bunter, und es wird auch wärmer. Zum Glück verläuft der Weg
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