Santiago, Santiago
über weite Strecken im Schatten eines Buchenwaldes. Immer wieder sehen wir nun hinunter in die Niederungen des Südwestens. Wir haben den Eindruck, dort beginne ein neues Kapitel unserer Reise.
Ein uraltes, zerfurchtes, schwarz-graues Holzkreuz steht am Weg, Fetzen von trockenen Flechten hängen daran. Es muß zu einer Zeit errichtet worden sein, als dieser Weg noch allgemein benutzt wurde. Heute gehen hier nur noch die Pilger.
Wir sind an einem spitzen Vulkankegel mit einer Burgruine vorbeigekommen, und es geht nun durch einen Hohlweg steil abwärts. Er ist teilweise von Mauern gesäumt, Sträucher und Bäume bilden ein Dach über uns, und es herrscht angenehme Kühle. Zahllose große Steine liegen auf dem Weg. Sie sind von den einbrechenden Seitenmauern hinuntergestürzt, und es ist niemand mehr da, der sie forträumte. Dann wird der Weg besser. An den Spuren erkennen wir, daß er von Ziegen und Schafen benützt wird. Schließlich kommen wir auf ein Sträßchen und erkennen vor uns, an den Hang des Tales gelehnt, das Städtchen Saint-Chély, unser heutiges Ziel.
In Wirklichkeit ist Saint-Chély ein größeres Bergdorf. Wir haben in einem kleinen Gasthof Unterkunft gefunden und runden den Marschtag mit einem kühlen Bier vor dem Hause ab. Es geht gegen vier Uhr, und die Straßen beginnen sich zu beleben. Frauen gehen ihren Besorgungen nach, junge Bauern setzen den Traktor in Gang und fahren aus dem Dorf hinaus. Viele alte Häuser sind sorgfältig renoviert. Im Umkreis eines kleinen Spitals herrscht reges Kommen und Gehen. Der Lebensmittelladen hat auf Selbstbedienung umgestellt, »Libre service« heißt das in sonderbarem Französisch. Wir freuen uns, der Einsamkeit des Aubrac entronnen und wieder unter Menschen zu sein.
Die beiden Französinnen sind auch im Dorf, ebenso Jacques, ein Pilger, den wir schon mehrmals aus der Ferne gesehen, aber noch nicht kennengelernt haben. Mit den Frauen haben wir im Verlaufe des Tages ein gemeinsames Nachtessen im Gasthof abgemacht, und sie haben versprochen, Jacques mitzubringen.
So bilden wir am Abend eine Pilgerrunde. Die Wirtsleute sind uns wohlgesinnt, und das Essen ist gut. Während wir über die klassischen Probleme des Wanderers sprechen — wie schwer der Rucksack, welche Fußbeschwerden — spüre ich, daß jeder denkt, welches wohl die Berufe der anderen seien. Ich schlage vor, das Rätselraten öffentlich zu machen und dann die Antworten bekanntzugeben. Es zeigt sich, daß wir alle gut geraten, die kleinen Zeichen richtig gelesen haben. Jacques ist Gymnasiallehrer und hat viele Jahre in den französischen Kolonien unterrichtet; jetzt lebt er in einer baskischen Kleinstadt. Die ältere der Frauen, Stéfane, ist Medizinerin und arbeitet in einem sozialpsychiatrischen Dienst. Béatrice, die jüngere, war Sozialarbeiterin, leitet aber heute die Exportabteilung einer Firma im Gesundheitsbereich. Auch Verena und ich müssen unsere pädagogisch-psychologische Flagge zeigen. Wir passen also gut zusammen. Noch stärker verbindet uns aber das gemeinsame Unternehmen und dessen ähnliches Verständnis: ein durchaus modernes Lebensgefühl, wenig mystisches Erleben, aber bei alledem etwas von der Sehnsucht, die im Pilgerbuch von Aubrac aufgeleuchtet war.
Beim alten Herrn von Espalion
7.Tag: Von Saint-Chély-d’Aubrac nach Espalion
Heute nehmen wir von den Bergen des Aubrac Abschied. Der Tag beginnt mit dem Abstieg durch das Städtchen am Berghang, hinunter zum Bach und zur mittelalterlichen Brücke, die ihn überquert. In der niedrigen Brüstungsmauer ist ein Steinkreuz verankert. An seinem Fuß erkennen wir die naive Darstellung eines Pilgers mit Mantel, Brotsack und Stab.
- Gruß, Bruder Pilger! Wir kommen nach.
Wir lassen die Brücke hinter uns und steigen auf der waldigen Gegenseite wieder in die Höhe. Hier herrscht noch die schattige Kühle des Morgens, drüben liegt das Städtchen schon in der Morgensonne. Der Weg führt nun auf einem Höhenrücken, der allmählich gegen den Lot abfällt, talauswärts.
Die Bauern sind hier oben an der Heuernte. Ihre Häuser sind aus rötlich-schiefrigem Stein gebaut, einstöckig, mit breitem Kamin, der aus der Firstmauer herauswächst. Die Form ist uns von den Bildern eines van Gogh oder Vlaminck vertraut, aber wir sind überrascht, sie hier in den Cevennen wiederzufinden. Das Sträßchen verläuft zwischen blühenden Brombeerhecken, Haselsträuchern und Ginsterbesen. Das Summen der Bienen füllt die Morgenluft. Ein warmer Tag
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