Sara
Aber ich glaubte nicht, daß es eine Barriere war, die mich tangieren würde. Ich war eine Ausnahme.
»Stimmt das?« fragte ich. »Kann ich reingehen?«
Die Glocke am Ende der Hau-den-Lukas-Stange schepperte laut und deutlich. Einmal scheppern für ja, zweimal für nein. Ich ging weiter die Treppe hinauf.
Jetzt konnte ich das Riesenrad sehen, das sich vor dem strahlenden Himmel drehte, das Riesenrad, das ich schon im Hintergrund des Fotos der Band in Osteens Tage am Dark Score gesehen hatte. Der Rahmen war aus Metall, aber die bunt bemalten Gondeln aus Holz. Ein breiter, mit Sägemehl bestreuter Weg führte zu ihm hin wie ein Mittelgang zu einem Altar. Das Sägemehl war aus einem bestimmten Grund gestreut worden; fast jeder Mann, den ich sah, kaute Tabak.
Ich wartete ein paar Sekunden am oberen Ende der Treppe, immer noch auf der Seeseite des Bogens. Ich hatte Angst davor, was mit mir passieren könnte, wenn ich darunter herging. Angst davor, zu sterben oder zu verschwinden, ja, aber am meisten davor, nicht dorthin zurückkehren zu können, von wo ich gekommen war, dazu verdammt zu sein, die Ewigkeit als Besucher des Jahrmarkts von Fryeburg an der Jahrhundertwende zu verbringen. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, kam mir das auch wie eine Story von Ray Bradbury vor.
Am Ende war es Sara Tidwell, die mich in jene andere Welt zog. Ich mußte sie mit eigenen Augen sehen. Ich mußte zusehen, wie sie sang. Ich mußte einfach.
Ich verspürte ein Kribbeln, als ich unter dem Bogen durchtrat, und hörte ein Seufzen in den Ohren, wie von einer Million Stimmen, die sehr weit entfernt waren. Die vor Erleichterung seufzten? Mißfallen? Ich konnte es nicht sagen. Ich wußte nur, daß es anders war, auf der anderen Seite zu sein - der Unterschied, der dazwischen besteht, ob man etwas durch ein Fenster sieht und ob man tatsächlich dort ist; der Unterschied zwischen beobachten und teilnehmen.
Farben sprangen mich an wie Wegelagerer im Augenblick des Angriffs. Die Gerüche, die auf der Seeseite des Bogens süß und verlockend und nostalgisch gewesen waren, waren nun rauh und sexy, Prosa statt Poesie. Ich konnte Würste und gebratenes Rindfleisch und den überwältigenden Geruch von kochender Schokolade riechen. Zwei Kinder, die sich eine Papiertüte Zuckerwatte teilten, gingen an mir vorbei. Beide hielten zusammengelegte Taschentücher umklammert, in die sie ihr restliches Kleingeld eingeschlagen hatten. »He, Jungs!« rief ihnen ein Marktschreier im blauen Hemd zu. Er trug Ärmelhalter, sein Lächeln zeigte einen protzigen Goldzahn. »Werft die Milchflaschen um und gewinnt einen Preis! Ich hab’ den ganzen Tag noch keinen Verlierer gehabt!«
Weiter vorne setzten die Red-Tops zum ›Fishin Blues‹ an. Ich hatte gedacht, daß der Junge im Stadtpark von Castle Rock ziemlich gut war, aber gegen diese Version nahm sich die des Jungen alt und langsam und ahnungslos aus. Sie war nicht niedlich, wie ein antikes Foto mit Damen, die die Röcke bis zu
den Knien hochhalten und eine malerische Version des Black Bottom tanzen, bei der man die Säume ihrer knielangen Beinkleider gerade noch sehen kann. Es war nichts, das Alan Lomax zusammen mit seinen anderen Folksongs gesammelt hatte, ein weiterer verstaubter amerikanischer Schmetterling in einem Glas mit vielen anderen; dies war Dreck mit gerade soviel Politur drauf, daß die ganze swingende Bande nicht ins Gefängnis kam. Sara Tidwell sang vom Dirty Boogie, und ich schätzte, daß jeder pfriemkauende Farmer mit Strohhut, Overall und schwieligen Händen vor der Bühne davon träumte, es mit ihr zu treiben, die Stelle zu finden, wo sich der Schweiß in der Ritze sammelt und die Hitze lodert und man das Rosa durchschimmern sieht.
Ich ging in diese Richtung und bekam am Rande mit, daß in den Ausstellungspferchen Kühe muhten und Schafe blökten - die Jahrmarkt-Version des Hi-Ho Dairy-O meiner Kindheit. Ich kam an dem Schießstand und dem Ringwerfen und der Wurfbude vorbei; ich kam an einer Bühne vorbei, auf der die Zofen Angelinas sich in einem langsamen, schlangenartigen Tanz wiegten und die Hände zusammenpreßten, während ein Kerl mit Turban und Schuhcreme im Gesicht Flöte spielte. Das auf einer gespannten Leinwand gemalte Bild deutete an, daß Angelina - die man drinnen für das bloße Zehntel eines Dollars bestaunen konnte, Nachbar - die beiden ziemlich alt aussehen lassen würde. Ich kam am Eingang des Gruselkabinetts vorbei, dem Grill, wo Maiskolben geröstet wurden, der
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