Sara
Westen, dunkle Hosen. Son Tidwell, am entgegengesetzten Ende der Bühne, trug die Melone, die er auf dem Foto aufgesetzt hatte. Sara jedoch …
»Warum hat die Lady Matties Kleid an?« fragte Kyra mich und fing an zu zittern.
»Ich weiß nicht, Liebes. Ich kann es nicht sagen.« Ebensowenig konnte ich widersprechen - es war tatsächlich das weiße ärmellose Kleid, das Mattie im Stadtpark angehabt hatte.
Auf der Bühne spielte die Band ein Instrumentalzwischenstück. Reginald ›Son‹ Tidwell schlenderte lässig zu Sara, seine Hände verschwommene braune Flecken auf den Saiten und Bünden der Gitarre, und sie drehte sich zu ihm um. Sie preßten die Stirnen gegeneinander, sie lachend, er ernst; sie sahen einander in die Augen und versuchten, einander niederzuspielen, die Menge johlte und klatschte, die restlichen Red-Tops lachten beim Spielen. Als ich sie so sah, wurde mir klar, daß ich recht gehabt hatte: Sie waren Bruder und Schwester. Die Ähnlichkeit war zu ausgeprägt, als daß man sie hätte übersehen oder mißdeuten können. Aber am deutlichsten sah ich, wie sich ihre Hüften und der Po unter dem weißen Kleid bewegten. Kyra und ich mochten Kleidung der Jahrhundertwende tragen, aber Sara war durch und durch modern angezogen. Keine Liebestöter, keine Petticoats, keine Baumwollstrümpfe. Niemand schien zu bemerken, daß ihr Kleid oberhalb der Knie endete - daß sie nach den Maßstäben dieser Zeit so gut wie nackt war. Und unter Matties Kleid trug sie Unterwäsche, wie sie diese Leute noch nie gesehen hatten: einen BH aus Lycra und einen Stretchslip aus Nylon. Würde ich meine Hand auf ihre Hüfte legen, würde der Stoff nicht über ein abweisendes Korsett rutschen, sondern über weiche, nackte Haut. Braune Haut, nicht weiße. Was willst du, Sugar?
Sara rückte von Son ab, schüttelte ihren nicht eingezwängten, nicht drapierten Hintern und lachte. Er schlenderte zu seinem Platz zurück, und sie drehte sich zur Menge um, während die Band die Hinführung zur nächsten Strophe spielte. Als Sara zu singen begann, sah sie mich direkt an.
»Before you start in fishin
you better check your line.
Said before you start in fishin, honey,
You better check on your line.
I’ll pull on your’s, darlin,
and you best tug on mine.«
Die Menge brüllte fröhlich. Kyra zitterte heftiger denn je auf meinen Armen. »Ich hab’ Angst, Mike«, sagte sie. »Ich mag
die Lady nicht. Sie ist eine unheimliche Lady. Sie hat Matties Kleid gestohlen. Ich will nach Hause.«
Es war, als hätte Sara sie trotz des Schrammelns und Stampfens der Musik gehört. Sie legte den Kopf in den Nacken, zog die Lippen zurück und lachte zum Himmel. Ihre Zähne waren groß und gelb. Sie sahen aus wie die Zähne eines hungrigen Tiers, und ich stimmte Kyra innerlich zu: Sie war eine unheimliche Lady.
»Okay, Kleines«, murmelte ich Ki ins Ohr. »Wir ziehen Leine.«
Aber bevor ich mich bewegen konnte, kam das Bewußtsein der Frau - ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll - über mich und hielt mich fest. Nun begriff ich, was in der Küche an mir vorbeigeschossen war und den Schriftzug CARLADEAN verstreut hatte; die Kälte war dieselbe. Es war fast, als würde ich eine Person am Klang ihrer Schritte identifizieren.
Sie führte die Band erneut zur Überleitung, dann in eine weitere Strophe. Keine, die man in einer schriftlichen Version des Songs finden würde:
»I ain’t gonna hurt her, honey,
not for all the treasure in the worl’.
Said I wouldn’t hurt your baby,
nor for diamonds or for pearls.
Only one black-hearted bastard
dare to touch that little girl.«
Die Menge brüllte, als wäre das das Komischste, das sie je gehört hätten, aber Kyra fing an zu weinen. Sara sah es, streckte die Brüste vor - viel größere Brüste als die von Mattie - und schüttelte sie, während sie das Lachen ausstieß, das zu ihrem Markenzeichen geworden war. Diese Geste hatte eine parodierende Kälte an sich … und eine gewisse Leere. Eine Traurigkeit. Und doch konnte ich kein Mitleid mit ihr empfinden. Es war, als wäre ihr das Herz ausgebrannt worden und die Traurigkeit, die blieb, nur ein weiterer Geist, die Erinnerung einer Liebe, die in den Gebeinen des Hasses spukte.
Und wie sie beim Lachen höhnisch die Zähne bleckte.
Sara hob die Arme über den Kopf und schüttelte sich diesmal am ganzen Körper, als hätte sie meine Gedanken gelesen und machte sich darüber lustig. Wie Gelee auf einem Teller, wie es in einem anderen alten
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