Sara
zu sehen, halb fürchtete ich es. Es war kein Junge da, aber etwas lag zwischen Steinen und Wurzeln und Seegras auf dem Grund, wo er gewesen war. Ich kniff die Augen zusammen, und da ließ der Wind ein wenig nach und stillte das Funkeln auf dem Wasser. Es war ein Gehstock mit goldenem Griff. Ein Gehstock der Boston Post . Zwei Bänder - weiß mit hellroten Rändern -, deren Enden träge winkten, waren in einer aufsteigenden Spirale um ihn herum gewickelt. Als ich Royces Stock auf diese Weise geschmückt sah, mußte ich an Abschlußfeiern der High School und den Stab denken, den die Klassensprecher schwenken, wenn sie ihre Mitschüler in den festlichen Roben zu ihren Sitzen führen. Jetzt begriff ich, warum der alte Tattergreis nicht ans Telefon gegangen war. Royce Merrills Telefoniertage gehörten der Vergangenheit an. Ich wußte es; ich wußte auch, daß ich in einer Zeit noch vor Royces Geburt gelandet war. Sara Tidwell war hier, ich konnte sie singen hören, und als Royce 1903 geboren wurde, war Sara mitsamt ihrer ganzen Red-Top-Familie schon zwei Jahre fort gewesen.
»Geh runter, Moses«, sagte ich zu dem bändergeschmückten Stock im Wasser. »Du sollst ins Gelobte Land.«
Ich näherte mich, von der kühlen Luft und dem rauschenden Wind belebt, der Musik. Nun konnte ich auch Stimmen hören, jede Menge Stimmen, die redeten und riefen und lachten. Über alle erhob sich der heisere Ruf des Marktschreiers am Gruselkabinett: »Herrrrreinspaziert, Leute, herrrrreinspaziert! Drinnen ist alles bereit, aber ihr müßt euch sputen, sputen, sputen, die nächste Vorstellung beginnt in zehn Minuten! Seht Angelina die Schlangenfrau, sie tanzt, sie windet sich, sie bezaubert euer Auge und stiehlt euer Herz, aber geht nicht zu nahe ran, denn ihr Biß ist gif -tig! Seht Hando, den Jungen mit dem Hundegesicht, den Schrecken der Südsee! Seht das menschliche Skelett! Seht das menschliche Gila-Monster, Relikt einer Zeit, die Gott vergessen hat! Seht die bärtige Dame und die Killer-Marsianer! Alles wartet da drinnen, ja, meine Herrrrn, also herrrrreinspaziert!«
Ich konnte die Dampforgel eines Karussells und das Glöckchen am oberen Ende der Stange hören, wo ein Holzfäller gerade ein Plüschtier für seine Liebste gewonnen hatte. Man konnte den entzückten Ausrufen der Frauen entnehmen, daß er den Lukas beinahe fest genug gehauen hatte, um ihn über die Stange hinaus in die Luft zu jagen. Vom Schießstand ertönte das Knallen von.22ern, das schnarchende Muh einer preisgekrönten Kuh … und nun konnte ich die Düfte riechen, die ich seit meiner Kindheit mit Jahrmärkten in Verbindung bringe: süße Krapfen, gegrillte Zwiebeln und Peperoni, Zuckerwatte, Pferdemist, Heu. Ich ging schneller, als die Akkorde der Gitarre und das Zupfen des Basses lauter wurden. Mein Herzschlag schaltete in einen kleineren Gang zurück. Ich würde ihre Vorstellung sehen, Sara Lacht und die Red-Top Boys wirklich und wahrhaftig live auf der Bühne erleben. Und dies war auch kein irrer dreiteiliger Fiebertraum. Es passierte genau jetzt, also herrrrreinspaziert.
Das Haus der Washburns (das für Mrs. M. immer das Haus der Brickers bleiben würde) war verschwunden. Hinter der Stelle, wo es einmal stehen sollte, führte an der Ostseite der Straße eine Flucht breiter Holzstufen den steilen
Hang hinauf. Sie erinnerten mich an die Treppe, die in Old Orchard vom Freizeitpark zum Strand hinunterführt. Hier waren die Lampions trotz des hellen Tages angezündet worden, und die Musik ertönte lauter denn je. Sara sang »Jimmy Crack Corn.«
Ich ging die Treppe hoch und näherte mich dem Gelächter und den Schreien, der Musik der Red-Tops und der Dampforgel, den Gerüchen von gebratenem Essen und Nutzvieh. Über dem oberen Ende der Treppe hing ein Holzbogen, auf dem
WILLKOMMEN ZUM JAHRMARKT VON FRYEBURG WILLKOMMEN IM 20. JAHRHUNDERT
stand. Während ich noch hinsah, kamen ein kleiner Junge in kurzen Hosen und eine Frau in taillierter Bluse und knöchellangem Rock unter dem Bogen auf mich zu. Sie flimmerten, wurden durchsichtig. Einen Moment konnte ich ihre Skelette und das Knochengrinsen unter ihren lachenden Gesichtern sehen. Einen Moment später waren sie verschwunden.
Zwei Farmer - einer trug einen Strohhut, der andere gestikulierte wild mit einer Maiskolbenpfeife - tauchten in exakt derselben Weise auf der zum Jahrmarkt gelegenen Seite des Bogens auf. Auf diese Weise wurde mir klar, daß eine Barriere zwischen der Straße und dem Jahrmarkt existierte.
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