Sara
Geisterbahn, wo auf anderen gespannten Leinwandstücken Gespenster dargestellt waren, die aus zerschmetterten Fenstern und verfallenen Kaminen kamen. Da drinnen gibt es nur den Tod , dachte ich … aber im Inneren konnte ich Kinder hören, die durchaus lebendig waren und lachten und quietschten, wenn sie in der Dunkelheit mit etwas zusammenstießen. Die älteren von ihnen küßten sich wahrscheinlich verstohlen. Ich kam an der Hau-den-Lukas-Stange vorbei, wo die Abstufungen bis zur Messingglocke an der Spitze lauteten: BABY BRAUCHT SEIN FLÄSCHCHEN, MEMME, VERSUCH’S NOCH MAL, GROSSER JUNGE, RAUFBOLD und dicht unterhalb der Glocke, in Rot: HERKULES! In der Mitte einer kleinen Menschenmenge zog ein junger Mann mit rotem
Haar sein Hemd aus und entblößte einen muskulösen Oberkörper. Ein Marktschreier mit Zigarre im Mund hielt ihm einen Hammer hin. Ich ging an einem Zelt, wo Leute auf Bänken saßen und Bingo spielten, und am Baseballplatz vorbei. An all dem kam ich vorbei und nahm es kaum zur Kenntnis. Ich war in der Zone, in Trance. »Du mußt ihn zurückrufen«, hatte Jo manchmal zu Harold gesagt, wenn er anrief, »Michael befindet sich gerade im Land der Großen Vorspiegelung Falscher Tatsachen.« Aber im Augenblick kam mir nichts vorgespiegelt vor, und das einzige, was mich interessierte, war die Bühne unter dem großen Riesenrad. Acht Farbige standen darauf. Ganz vorne Sara Tidwell, die eine Gitarre umgehängt hatte und Akkorde anschlug. Sie war lebendig. Sie war im besten Alter. Sie warf den Kopf zurück und lachte den Oktoberhimmel an.
Ein Ruf hinter mir riß mich aus meiner Benommenheit: »Warte, Mike! Warte!«
Ich drehte mich um und sah Kyra mit pummeligen Knien, die wie Motorkolben auf und ab gingen, auf mich zugerannt kommen, wobei sie den Passanten und Spielern und Gaffern auf dem Mittelweg auswich. Sie trug ein kurzes weißes Matrosenkleid mit roten Litzen und einen Strohhut mit einem marineblauen Hutband. In einer Hand hielt sie Strickland, und als sie mich erreicht hatte, warf sie sich vertrauensvoll vorwärts, weil sie wußte, daß ich sie auffangen und hochschwingen würde. Das tat ich, und als ihr Hut herunterfiel, fing ich ihn und setzte ihn ihr wieder auf.
»Ich hab’ meinen eignen Quartermack attagiert«, sagte sie und lachte. »Schon wieder.«
»Stimmt«, sagte ich. »Du bist ein richtig fieser Joe Green.« Ich trug einen Overall (der Zipfel eines verwaschenen blauen Taschentuchs ragte aus der Brusttasche) und dungfleckige Halbstiefel. Ich betrachtete Kyras weiße Socken und sah, daß sie selbstgestrickt waren. Wenn ich ihr den Strohhut abnehmen und ins Innere schauen würde, würde ich auch keinen diskreten kleinen Aufkleber Made in Mexico oder Made in China finden. Dieser Hut war höchstwahrscheinlich in Motton gemacht worden, von einer Farmersfrau mit roten Händen und schmerzenden Gelenken.
»Ki, wo ist Mattie?«
»Zu Hause, schätze ich. Sie konnte nicht kommen.«
»Wie kommst du hierher?«
»Die Treppe rauf. Es waren eine Menge Stufen. Du hättest auf mich warten sollen. Hättest mich trägern können, wie schon mal. Ich will die Musik hören.«
»Ich auch. Weißt du, wer das ist, Kyra?«
»Ja«, sagte sie, »Kitos Mom. Beeil dich, lahme Ente!«
Ich ging auf die Bühne zu und dachte, daß wir am hinteren Rand der Menge stehen müßten, aber sie machten uns Platz, als wir näher kamen - ich mit Kyra auf den Armen, die süße Last, ein kleines Gibson-Mädchen mit Matrosenkleid und Strohhut mit buntem Band. Den Arm hatte sie um meinen Nacken gelegt, und die Menge teilte sich für uns wie das Rote Meer für Moses.
Sie drehten sich auch nicht zu uns um und sahen uns an. Sie klatschten und stampften und johlten ganz selbstvergessen mit der Musik. Sie traten unbewußt beiseite, als wäre eine Art Magnetismus am Werk - unserer positiv, ihrer negativ. Die wenigen Frauen in der Menge erröteten, hatten aber eindeutig ihren Spaß; eine von ihnen lachte so sehr, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie schien nicht älter als zwei- oder dreiundzwanzig zu sein. Kyra zeigte auf sie und sagte nüchtern: »Kennst du Matties Boß in der Bibilothek? Das ist ihre Nana.«
Linda Briggs’ Großmutter, taufrisch und knackig , dachte ich. Gütiger Gott .
Die Red-Tops tummelten sich auf der Bühne unter Bahnen roter, weißer und blauer Girlanden wie eine zeitreisende Rockband. Ich kannte sie alle von dem Bild in Edward Osteens Buch. Die Männer trugen weiße Hemden, Ärmelbänder, dunkle
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