Sarah Boils Bluterbe (German Edition)
längst wieder da?
Ich öffnete langsam die Augen, immer noch von den Eindrücken überwältigt, blickte ich in Lionels verzerrtes Gesicht. Zum ersten Mal hatten seine Züge sich besorgnisvoll in eine verkrampfte Maske verwandelt. In der Erinnerung an meine neue Macht, grinste ich, noch ein wenig verwirrt, jedoch siegessicher:
„Da bin ich doch schon wieder.“
Lionel nickte und atmete erleichtert auf. Der Pater beugte sich über mich und lächelte zufrieden.
„Sie ist wahrlich das Amulett.“
Lionel hielt mir behilflich seine Hand hin, doch ich schob sie beiseite und beschloss, meine neuen Fähigkeiten auszuprobieren. Konzentriert auf meine Gedanken, stellte ich mir genau vor, wie ich mit einem Satz auf meine Füße springen würde und zum Stehen käme. Genauso, wie es Lionel tun würde. Ich atmete tief ein und spannte die Muskeln in meinen Beinen. Dann gab ich meinem Oberkörper einen Ruck und ehe ich mich versah, stolperte ich quer durch die Kapelle und konnte mich gerade noch an der mir entgegenkommenden Tischkante bremsen. Die beiden Männer blickten erschrocken auf. Vor mir lagen die alten Schriften, ich warf einen Blick auf das zerknitterte Pergament. Wie von Geisterhand verwandelten sich die fremden Buchstaben in einen lesbaren Text. Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch.
Ich kann jetzt mehrere Sprachen?
Ich wandte mich Lionel zu, verwirrt und in Gedanken murmelte ich: „Danke, aber ich glaube, ich muss jetzt gehen.“
Er sprang mit einem Satz auf mich zu und hielt mich an beiden Schultern fest. Reflexartig wandte ich mich blitzschnell um die eigene Achse und schlug mit der flachen Hand gegen seinen Solarplexus, so dass er rückwärts durch den Raum taumelte und gegen die hinter ihm stehende Wand prallte. Entsetzt und verwirrt fauchte er: „Wie geht das? Was ist hier los?“
Sein Blick wanderte erschrocken zwischen dem Pater und mir hin und her. Meine Hände anstarrend, erstaunt und verwundert zugleich, überkam mich ein Gefühl des Stolzes. Meine neue Macht loderte in mir hoch und ich genoss sie in vollen Zügen. Er riss den Kopf herum, seine weißen Eckzähne schnellten hervor, das Blau in seinen Augen wich einer goldglänzenden Iris und er schrie mit dunkler und entrüsteter Stimme dem Pater zu: „Was haben sie mit ihr gemacht?“
Lionel kochte vor Wut. Ich schritt auf die Türe zu und warf Lionel einen ermahnenden und provokativen Blick zu: „Denk nicht mal daran. Du wirst meinen Hals nicht erreichen. Jetzt nicht mehr.“
In seinen Augen las ich Wut und Verzweiflung, er schlug mit der Faust gegen den hölzernen Bilderrahmen, der an der Wand hing. Es folgte ein Splittern und ein dumpfes Scheppern, als er zu Boden fiel.
„Verdammt! Das ist Christophers Werk! Wie konnte das passieren? Er ist doch tot? Wie kommt sie an ihre Kräfte?“ zischte er durch die Zähne.
Dann schrie er mit tiefer Stimme; „Pater, sie haben gesagt, dass die Mönche sie ins Licht geholt haben. Was ist hier los?“
Aurelius zuckte verwirrt mit den Schultern und stotterte: „Ich…ich … weiß es nicht.“
Ein Lächeln zog über mein Gesicht und besessen von einem neuen, mir gänzlich unbekannten Machtgefühl rief ich ihm lächelnd zu:„Das ist nicht mehr von Bedeutung, Lionel.“
Er machte erneut einen Satz auf mich zu. Er griff nach meinem Arm, zog mich gewaltsam an sich heran. Wir standen uns gegenüber. Auge in Auge. Anstatt mich zu wehren und einfach zu gehen, genoss ich die Magie, die zwischen uns aufkeimte. Ich suhlte mich regelrecht in ihr. Dieser neue und Kraft bringende Strudel der Macht, sog mich in sich hinein. Er umhüllte mich wie ein warmer Mantel und wiegte mich in Sicherheit. Seine blaue Iris kehrte langsam zurück und funkelte wie ein Lapislazuli, so hell, als würden sich die Strahlen der Sonne in seiner Iris brechen. Seine Unsicherheit konnte ich fast schon riechen. Ich spürte sein Herz rasen, fühlte das Blut in seinen Adern fließen. Meine neuen empathischen Kräfte verwirrten mich und doch beflügelte mich zugleich dieses mächtige Gefühl in meinem Innersten. Ich konnte Lionel auf eine neue Weise wahrnehmen, er war wie eine Überland- Stromleitung, geladen und voller Energie. Eine gewaltige Quelle. Doch da war noch etwas anderes in ihm. Irgendetwas schlummerte tief in seinen Eingeweiden, etwas, dass ich nicht definieren konnte. Ohne zu wissen, wie ich es tat und warum ich es tat, nutzte ich mein neues Können und ließ alles um mich herum gefrieren. Konzentrierte mich auf das, was ich
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