Sarah Boils Bluterbe (German Edition)
sehen wollte und griff mit meinen Sinnen in ihn hinein. Wie ein scheues Reh stand er vor mir, uns trennten nur noch wenige Zentimeter. Wie gefesselt harrte er aus. Suchte etwas in meinen Augen. Versuchte zu ergründen, was geschehen war. Wir standen uns so nah, dass wir unseren Atmen spürten, der See in seinen Augen war tief und unergründlich. Ich musste mich zusammenreißen, damit er mich nicht erneut in seinen Bann zog. Mit aller Kraft versuchte er seine Macht gegen mich einzusetzen. Sein Körper vibrierte vom Kopf bis zu den Zehen. Seine Erregung strömte durch die Luft und legte sich sanft und prickelnd auf meiner Haut. Trotz der prekären Situation lag ein Flimmern sexueller Begierde über uns. Als ich diese Gefühle wahrnahm, intensiver näher kommen sah, wich ich erschrocken einen Schritt zurück. Dieses Mal fragte ich mich.
Was ist hier los?
Zwei Augen starrten in mein Gesicht, sie fingen jede Bewegung meines Körpers ein. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Moschus. Meine Sinne nahmen das süßliche und doch markante Aftershave intensiv wahr. Es war nicht nur der Geruch nach Eau de Toilette. Da war noch etwas anderes. Etwas undefinierbar Anziehendes. Lionel schien, wie ich, mit seinen ausgeprägten Sinnen, die Luft abzutasten. In seinen Blicken sah ich zum ersten Mal einen Funken Hilflosigkeit. Auch er schien die Situation nicht mehr einsortieren zu können. Ich machte einen weiteren Schritt zurück. Dann drehte ich mich abrupt um und lief eiligen Schrittes aus dem kleinen Zimmer, durch die Kapelle direkt hinaus ins Freie. Ich brauchte mich nicht mehr umzusehen, um zu wissen, dass er mir nicht folgte. Ich hatte gerade den Innenhof verlassen und lief die Straße entlang, da öffneten sich die Schleusen des Himmels. Es begann in Strömen zu gießen. Der Regen peitsche mir regelrecht ins Gesicht. Über den Dächern der Stadt wurde es trotz des miesen Wetters langsam hell. Die Sonne ging auf. Wie lange hatte ich dort gelegen? Mein Zeitgefühl war mir entglitten. Die große Uhr neben einer Apotheke zeigte halb Sechs. Ich lief weiter, stolperte hier und da, weil mein Tempo einfach zu schnell war. Rennen war plötzlich wie fliegen, es fiel mir leichter als sonst, jedoch waren dadurch meine Bewegungen völlig unkoordiniert. Mir fehlte die Kontrolle über meine Muskeln, so stolperte und taumelte ich immer wieder. Ich versuchte einen gleichmäßigen Schritt zu finden. Irgendwo hinter mir hörte ich eine weibliche, nächtlich durchzechte Stimme einer Mittvierzigerin, die mit rauchiger Stimme rief: „Hey, musste weniger saufen, dann kannste auch gerade aus laufen.“
Ich drehte mich nicht zu ihr um und doch war mir klar, dass ich schnell mein Gleichgewicht finden musste. Also versuchte ich kleinere Schritte zu machen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und überquerte einigermaßen unauffällig die nächste Kreuzung. Als ich endlich einen Taxistand erreicht hatte, riss ich die Wagentüre eines beigen Mercedes auf. Der alte Mann hinter dem Lenkrad schenkte mir ein mit Goldzähnen versehenes und poliertes Lächeln, faltete dann seine Bildzeitung zusammen, verstaute sie hektisch in der Seitentüre und quäkte: „Fahren du weit? Geben du mir deine Fahrziel. Bist du gut gezappelt, auf Straße. Bringe ich dich sicher nach Hause, wegen die Alkohol in deine Blut.“
Langsam platzt mir der Kragen. Wieso glaubt jeder, ich habe getrunken?
„Ich bin nicht betrunken, ich habe dämonische Kräfte bekommen,“ platzte es wutentbrannt aus mir heraus. Ich biss mir auf die Zunge. Was war ich für eine riesen Rindvieh.
Ist ja mal wieder typisch für mich.
„Ja, sischer,“ lachte der Taxifahrer aus vollem Hals.
„Hast du Dämon in dir, ist Alkohol immer wie Dämon.“
Ich rückte näher an die Beifahrertüre, blickte aus dem Fenster, gab mein Fahrziel preis und schenkte Mr. Goldzahn keine weitere Beachtung. Es gab Momente, da glaubten die Menschen einer Lüge mehr, als der Wahrheit. Dieses Mal sagte ich die Wahrheit, und man glaubt mir nicht.
Verrückte Welt!!!
Kapitel 9
Als ich wenig später leise durch die Wohnung schlich, schlief Martin bereits tief und fest. In Windeseile flogen meine Klamotten neben das Bett und ich krabbelte leise unter die Decke. Die Ereignisse des Tages rasten wie ein Intercity durch meine Gedanken. Lionel und der Pater. Die Geistreise, mein Vater, diese neuen Kräfte. Ich kuschelte mich vorsichtig und bedächtig nah an Martin und suchte nach einem Ort, an dem ich mich verkriechen konnte.
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