Sarah Maclean
Als er sich von ihr löste und ihr
erneut in die Augen sah, atmeten sie beide schwer, und Gabri-
el wünschte all die Londoner auf der anderen Seite des Wand-
schirms zum Teufel.
Er musste aufhören. Schließlich war er dabei, genau das zu
tun, was er sich eigentlich streng verboten hatte. Hatte er nicht
gelobt, dass er sie nicht noch einmal kompromittieren würde?
Das war er ihr schuldig. Er war ihr noch viel mehr schuldig.
Eine Vision tat sich vor seinem inneren Auge auf: Callie,
nackt, sonnenüberflutet. Er schob das Bild beiseite. Dies war
nicht der richtige Zeitpunkt, sich Fantasien hinzugeben, die ihn
nur noch mehr erregten - die Ausbuchtung in seiner Kniehose
war so schon offensichtlich genug. Er löste Callies Hände aus
seinem Haar und küsste sie auf jeden einzelnen Fingerknöchel,
ehe er ihr wieder in die Augen sah.
„Ich muss dich um Verzeihung bitten."
Sie runzelte die Stirn. „Wie bitte?"
Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, glättete die Linien
dort und zog sie in die Arme, ehe er fortfuhr: „Ich muss mich
entschuldigen. Für alles. Für den Nachmittag in Ralston House,
den Fechtclub, mein Gott, Callie, sogar für diesen Nachmittag.
Ich habe dich ganz fürchterlich behandelt, habe dich ständig
kompromittiert. Und - ich muss dich um Verzeihung bitten."
Callie blinzelte ihn an. Im Sonnenschein wirkte ihre Haut
vollkommen rosig. Als sie nichts sagte, meinte er: „Ich würde
gern alles wiedergutmachen. Dich zu Brooks's mitzunehmen
wäre einmal ein erster Schritt."
Ein Schatten flog über Callies Gesicht - als wäre sie ent-
täuscht - und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Ralston fuhr fort. „Wir gehen gleich heute Abend."
„Heute Abend?"
„Außer du hast vor, auch noch den Abend mit Oxford zu ver-
bringen?", fragte er kühl.
„Nein ... allerdings wollte ich auf den Ball der Cavendishs.
Ich werde mich wohl entschuldigen müssen." Sie wich seinem
Blick aus.
„Das wäre ideal. Wenn wir gehen, während der Ball in vollem
Gang ist, wird die ganze Prozedur viel einlacher."
„Was soll ich denn anziehen?", fragte sie still.
Unwillkürlich stellte sich ein Bild von Callie in Männerklei-
dung ein: die eng sitzende Fechthose, die gewickelten Brüste,
die sich an ihn drängten, ihr Teint vor Vergnügen gerötet. Schon
wieder wurden ihm seine Kniehosen imbehaglich eng, und er
wand sich ein wenig, ehe er sagte: „Männerkleidung, nehme ich
an. Hast du etwas, was sich für einen Clubbesuch eignet? Oder
musst du deinen Fechtanzug tragen?"
Sie errötete ob dieser Neckerei und schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe schon etwas, was besser passt."
Natürlich hatte sie das. Er verkniff es sich zu fragen, wann sie
Anlass gehabt habe, etwas Passenderes zu tragen. Das Ganze
war eine schreckliche Idee.
Dennoch, er hatte ihr sein Wort gegeben. Besser, er begleitete
sie, als irgendjemand anders. Besser er als Oxford. Die Vorstel-
lung, dass sie in Männerkleidung mit Oxford ausging, war so
schrecklich, dass er dem Kerl am liebsten die Faust ins Gesicht
gerammt hätte.
Darauf bedacht, die Vorstellung von Callie und Oxford so
schnell wie möglich loszuwerden, ging Ralston zum Rand des
Wandschirms und warf rasch einen Blick in den Saal dahinter,
um sicherzugehen, dass keiner sie bemerkte, wenn sie aus ih-
rem Versteck zurückkamen. Nachdem er sich vergewissert hat-
te, dass niemand hinsah, führte er sie geschickt um den Wand-
schirm herum. Sein lässig schlendernder Gang lud sie ein, es
ihm nachzutun, als sie dem Hauptsaal zustrebten. „Soll ich
dich um halb zwölf vor Allendale House abholen?", fragte er
mit abgewandtem Blick und so leise, dass gewiss nur sie es hö-
ren konnte.
Sie nickte. „Das ist eine gute Zeit. So spät, dass jeder auf dem
Ball sein wird, aber noch nicht so spät, dass die ersten schon
wieder zurückkommen." Überrascht sah sie auf. „Du bist darin
ja ziemlich gut."
Er neigte den Kopf, als nähme er ein Kompliment entgegen.
„Das ist nicht das erste Mal, dass ich ein heimliches Stelldich-
ein plane."
Sie wandte den Blick ab. „Nein, vermutlich nicht", sagte sie
leise und blieb dann vor dem Bildnis eines Spaniels stehen. Sie
atmete tief durch. „Am Hintereingang."
Er nickte kaum merklich. „Ich habe mich mit Juliana ver-
söhnt." Er wusste nicht, warum er das Bedürfnis verspürte, ihr
das zu erzählen, aber so war es nun einmal.
In ihrem Gesicht malte sich Überraschung, so schnell, dass
er sich
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