Sarah Maclean
hat.
Sie seufzte und wünschte sich, sie könnte die Erinnerung an
Raistons ernste Worte bannen, so offen und edelmütig, dass sie
am liebsten ausgespuckt hätte.
Oder geweint.
Sie atmete tief durch, drängte die Tränen zurück, die ihr
schon in den Augen brannten. An dem Abend, der, wie sie hoffte,
der aufregendste ihres Lebens werden würde, wollte sie nicht
weinen. Aufregend nicht Raistons wegen ... sondern allein ih-
retwegen.
Und ein bisschen auch Raistons wegen.
Also gut, auch ein bisschen Raistons wegen. Aber vor allem
ihretwegen.
Sie dachte einen Augenblick nach, versuchte herauszufin-
den, was sie mehr lockte, das Glücksspiel oder der Herrenclub
selbst. Es war unmöglich, das herauszufinden. Sie würde ein-
fach abwarten müssen, bis sie es am eigenen Leib erfuhr. Was
nicht mehr lange ... wieder sah sie auf die Uhr. Zwölf nach
neun. Konnte es sein, dass die Uhr kaputt war? Unmöglich, dass
es erst zwei Minuten her war, seit sie zum letzten Mal auf die
Uhr gesehen hatte. Sie sah auf die Uhrzeiger, wartete darauf,
dass der Minutenzeiger auf die dreizehn wanderte. Die Warte-
zeit nahm kein Ende. Ja. Die Uhr war ganz eindeutig kaputt.
Callie fuhr auf dem Absatz herum und ging zur Tür, um sich
in den Flur hinauszuschleichen und dort auf die Uhr zu sehen.
Bestimmt war es schon fast elf. Sie würde sich rasch anziehen
müssen, wenn sie rechtzeitig fertig werden wollte. Sie musste
Anne rufen.
Kaum hatte sie einen Schritt zur Tür getan, als diese aufflog
und Mariana hereingeplatzt kam. Ihre Schwester schloss die
Tür gleich wieder und baute sich dann, die Arme in die Seiten
gestemmt, vor ihr auf, keuchend, als wäre sie gerannt.
Nach einem raschen Blick auf das glatte, unbenutzte Bett
durchbohrte Mariana Callie mit einem triumphierenden Blick
und sagte: „Wusste ich es doch!" Sie klang, als hätte sie gerade
das Rad erfunden. Oder etwas ebenso Weltbewegendes.
Callie riss die Augen auf. „Was wusstest du?"
Mit vorwurfsvoll blitzendem Blick deutete Mariana auf ihre
Schwester. „Ich wusste, dass du nicht krank bist!" Sie senkte
die Stimme zu einem Flüstern. „Du willst einen weiteren Punkt
auf deiner Liste abhaken!"
Callie stand wie erstarrt, ehe sie sich nach einer Weile ab-
wandte und eine Hand an den Kopf legte. Dann ging sie auf
ihr Bett zu. „Wie kommst du denn auf die Idee? Ich bin gerade
aufgestanden, um mir ein Mittelchen von der Köchin bringen
zu lassen."
Sie warf Mariana einen raschen Blick zu und sah, dass die
Schwester ihr kein Wort glaubte. „Ein Mittelchen von der Kö-
chin?", sagte sie ungläubig. „Selbst auf dem Totenbett würdest
du kein Mittelchen von unserer Köchin nehmen." Mariana eilte
zum Bett und sprang darauf, als trüge sie ein Nachthemd und
nicht etwa ein atemberaubendes seidenes Ballkleid. „Was ist
heute Abend dran? Pferderennen? Boxen? Schnupftabak?"
Callie legte sich aufs Bett und zog sich ein Kissen über das
Gesicht.
„Ich weiß! Ein Bordell!"
Schockiert schob Callie das Kissen von ihrem Gesicht herun-
ter. „Mariana! Nun lässt du aber die Fantasie mit dir durchge-
hen! Natürlich will ich nicht ins Bordell!"
Mariana verzog enttäuscht das Gesicht. „Oh. Wie schade."
Callie warf ihrer Schwester einen spöttischen Blick zu. „Ja.
Sehr schade. Trotzdem werde ich heute Abend keine übel be-
leumdeten Örtlichkeiten aufsuchen."
„Aber vielleicht an einem anderen Abend?"
Callie schüttelte den Kopf. „Ich kann gar nicht fassen, dass
du in wenigen Monaten eine Duchess werden sollst."
Mariana grinste und zuckte auf höchst undamenhafte Weise
mit den Schultern. „Genau! Ich werde Duchess. Wer sollte mich
dann noch kritisieren? Außer Mutter natürlich."
Callie erwiderte das Lächeln ihrer Schwester. „Kommst du
nicht zu spät zum Ball?"
„Ich will da nicht hin. Ich will mit dir gehen."
„Ich gehe ja nirgendwohin."
„Du weißt, dass Lügen eine Sünde ist", mahnte Mariana
ernsthaft.
„Also gut. Ich gehe noch aus, aber du kannst nicht mitkom-
men. Wenn wir uns beide krank stellen, wird Mutter wissen,
dass etwas nicht stimmt."
Begeistert klatschte Mariana in die Hände. „Wohin gehst du
denn?"
„Wie viel Uhr haben wir?"
Mariana kniff die Augen zusammen. „Callie. Lenk nicht ab."
„Ich lenke doch gar nicht ab! Ich will nur nicht zu spät kom-
men."
„Zwanzig nach neun."
Callie seufzte und ließ sich auf das Bett zurücksinken. „Die-
ser Abend nimmt überhaupt kein Ende
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