Sarah Maclean
auch."
Anne seufzte. „Ich dachte, wir hätten mit den Spitzenhäub-
chen abgeschlossen."
„Haben wir auch. Aber heute Abend muss ich mich so gut wie
möglich verkleiden."
Ärgerlich in sich hineinmurmelnd, verließ Anne das Zimmer.
Vermutlich beschwerte sie sich über die Zumutungen, die lang-
mütige Zofen über sich ergehen lassen mussten.
Sobald Anne weg war, zog Callie das Kleid aus, das sie zum
Ball getragen hatte. Während sie aus der blauen Satinrobe
schlüpfte, wiegte sie sich zu den leisen Klängen, die aus dem
Ballsaal heraufdrangen, wo die Gäste immer noch tanzten und
Mariana und Rivington feierten.
Für sie stand außer Frage, dass dies der schönste Ball ihres
Lebens gewesen war. Es lag nicht nur an dem Walzer mit Rals-
ton - obwohl der auch dazu beigetragen hatte - oder an dem de-
kadenten, ziemlich skandalösen Intermezzo mit dem Marquess,
mitten auf dem Fest, wo man sie jederzeit hätte ertappen kön-
nen. Nein, was den Ball für sie so besonders gemacht hatte, das
war, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine gewisse Kraft
in sich verspürt hatte - als ob sie alles tun könnte.
Als ob das Abenteuer, nach dem sie sich so sehnte, schon auf
sie wartete und sie nur zuzugreifen brauchte.
Dieses Gefühl der Macht war beinahe zu viel für sie gewor-
den, und so hatte sich Callie kurz nach Raistons Aufbruch auf
ihr Zimmer zurückgezogen. Die geheime Begegnung und die
Erregung, die sie erfasst hatte, als Ralston ihr eine Schenke
nannte, hatten es ihr unmöglich gemacht, sich weiter mit dem
zahmen Geplänkel des tons abzugeben. Wie sollte sie über die
Saison plaudern, wenn es in ein Wirtshaus zu gehen und Whisky
zu kosten galt? Eine neue Callie zu ermutigen?
Das konnte sie natürlich nicht.
Sie war schon öfter vorzeitig von einem Ball aufgebrochen;
sie bezweifelte, dass es irgendjemandem auffallen oder sich ir-
gendwer Gedanken deswegen machen würde. Dieser Umstand
machte es ihr jetzt umso leichter, zu ihrem Abenteuer davonzu-
schlüpfen. Endlich einmal hat es auch sein Gutes, ein Mauer-
blümchen zu sein!
Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und dann kündigte
ein lautes Klopfen an die Tür Annes Rückkehr an. Die Zofe kam
geschäftig herein, die Arme voll braunem Wollstoff.
Vor Aufregimg konnte Callie sich nicht zurückhalten und
klatschte in die Hände, was ihrer Zofe ein Stirnrunzeln ent-
lockte.
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie die erste Frau sind, die
beim Anblick von brauner Wolle applaudiert."
„Vielleicht bin ich die erste, die erkannt hat, welche Bedeu-
tung braune Wolle haben kann."
„Welche denn?"
„Freiheit."
Das Dog & Dove war anscheinend ein beliebter Treffpunkt.
Callie linste aus dem Fenster der Droschke, die sie sich für
die Fahrt zur Schenke genommen hatte. Vor Neugier hielt es sie
kaum noch auf dem Sitz, und sie hatte die Nase fast gegen die
Scheibe gepresst. Bei Tage war sie die Jermyn Street schon un-
zählige Male entlanggefahren, ohne zu wissen, dass es dort bei
Nacht vollkommen anders aussah. Die Verwandlung war wirk-
lich faszinierend.
Vor dem Wirtshaus standen Dutzende von Leuten, beleuchtet
von dem gelblichen Licht, das durch die Scheiben drang. Zu ih-
rer Überraschung entdeckte sie Angehörige der vornehmen Ge-
sellschaft, die mit ihren gestärkten Krawattentüchern Schulter
an Schulter mit Kaufleuten standen, den Leuten, auf die man in
den Ballsälen so verächtlich herunterblickte, weil sie gezwun-
gen waren, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.
Unter den Männern befand sich auch eine Handvoll Frau-
en, einige offensichtlich die Begleitung der Männer, an deren
Arm sie hingen, andere allein. Letzteres erfüllte Callie mit lei-
ser Unruhe; ein kleiner Teil ihrer selbst hatte insgeheim darauf
gehofft, dass sie bei ihrer Ankunft im Wirtshaus keine unbeglei-
teten Frauen sehen würde und darauf die Droschke anweisen
musste, sie sofort nach Hause zu bringen.
Wenn sie ehrlich war, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie
verzweifelt oder überglücklich darüber war, dass sie keine Aus-
rede zur Umkehr hatte.
Callie seufzte, worauf das Fenster beschlug und das Licht aus
der Schenke in einen verschwommenen gelben Nebel verwan-
delte. Sie könnte einfach nach Hause fahren und in Benedicks
Arbeitszimmer Whisky trinken. Mit Benedick. Er hatte ihr das
schließlich angeboten. In Allendale House, wo sie ihren guten
Ruf keinerlei Gefahr aussetzte.
Doch in Allendale House wartete kein
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