Sarah Maclean
stehen
Ihnen leider schwierige Zeiten bevor, Lady Calpurnia. Denken
Sie doch an Ihren Ruf ... wenn man Sie erwischen würde!"
„Man wird mich nicht erwischen." Callie wirbelte zu Anne
herum, dass ihr das halb aufgelöste Haar um den Kopf flog.
„Erstens sind alle so abgelenkt vom Ball, dass keinem auffal-
len würde, dass ich nicht mehr da bin. Wenn Sie mir dann noch
helfen, mich zu verkleiden, liegt die Gefahr der Entdeckung bei
null. Nur diesen einen Abend, Anne. Ich bin im Handumdrehen
wieder da, und keiner wird etwas bemerken." Callie hielt inne,
hob bittend die Hände und fügte hinzu: „Bitte. Habe ich nicht auch einmal einen aufregenden Abend verdient?"
Die ältere Frau schwieg; offenbar ließ sie sich Callies Worte
durch den Kopf gehen. Schließlich seufzte sie resigniert. „Diese
Liste bedeutet für uns beide noch mal den Untergang."
Callie grinste breit. Sie hatte gewonnen. „Hervorragend. Ach,
Anne, danke!"
„Sie werden mehr tun müssen, als mir zu danken, wenn der
Earl kommt und meinen Kopf verlangt."
„Einverstanden." Callie konnte nicht aufhören zu lächeln,
während sie sich umdrehte, um ihrer Zofe besseren Zugang zu
der Knopfreihe im Rücken zu verschaffen.
Während Anne die Verschlüsse löste, schüttelte sie den Kopf
und murmelte in sich hinein. „Ein Wirtshaus. Mitten in der
Nacht. Ich muss verrückt sein, Ihnen dabei zu helfen."
„Unsinn", widersprach Callie energisch. „Sie erweisen sich
einfach als sehr gute Freundin. Eine sehr gute Freundin, die
Sonntag, Montag und Dienstag freihaben sollte."
Die Zofe knurrte nur über diesen Bestechungsversuch. „Ha-
ben Sie denn jemals eine Schenke von innen gesehen?"
„Natürlich nicht", erklärte Callie. „Dazu hatte ich noch nie
Gelegenheit."
„Man könnte meinen, dass es dafür einen Grund gibt", sagte
Anne trocken.
„Waren Sie denn je in einer Schenke?"
Die Zofe nickte kurz. „Ich hatte einige Male Anlass, ein
Wirtshaus zu betreten. Ich hoffe nur, dass der Marquess of
Ralston eines mit ehrbarem Publikum empfohlen hat. Mir will
nicht gefallen, dass er Ihnen so bereitwillig dabei hilft, Ihren
Ruf zu ruinieren."
„Machen Sie Ralston keine Vorwürfe, Anne. Er hätte mir das
Dog & Dove bestimmt nicht empfohlen, wenn er gedacht hätte,
dass ich diejenige bin, die dort einzukehren gedenkt."
Anne schnaubte ungläubig. „Dann muss der Mann ein ziem-
licher Holzkopf sein, denn jeder halbwegs verständige Mensch
durchschaut Ihre Flunkereien, mein Liebes."
Callie ignorierte sie entschlossen. „So oder so liegt vor mir
ein Abenteuer, meinen Sie nicht auch? Ob an der Bar wohl ein
rotbackiger Bursche mit Zahnlücken steht? Oder ein hübsches,
müdes Schankmädchen, das dort arbeitet, damit ihre Kinder
Kleidung und zu essen haben? Oder eine Gruppe junger Hand-
werksburschen, die sich bei einem Glas Bier von ihrem anstren-
genden Tagwerk erholen wollen?"
Trocken versetzte ihre Zofe: „Das Einzige, was in dieser
Schenke sitzen wird, ist eine schwärmerisch veranlagte Dame,
die von der Wirklichkeit enttäuscht werden wird."
„Ach, Anne, wo ist Ihr Sinn für Abenteuer?"
„Ich glaube, Ihrer reicht für uns beide." Als Callie sie igno-
rierte, sagte sie ziemlich eindringlich: „Eines müssen Sie mir
aber versprechen."
„Ja?"
„Wenn Ihnen irgendwie unbehaglich ist, müssen Sie das
Wirtshaus sofort verlassen. Vielleicht sollte ich Ihnen Micha-
el mitschicken", überlegte sie. Michael war ihr Sohn und Kut-
scher bei den Allendales. „Er würde auf Sie aufpassen."
Dieser Vorschlag machte Callie nervös. Sie drehte sich zu ih-
rer Zofe um, presste dabei das lose Kleid an die Brust und sagte
drängend: „Anne, außer Ihnen darf nie jemand erfahren, wo ich
hingegangen bin. Nicht einmal Michael. Ich kann nicht riskie-
ren, dass es herauskommt. Das verstehen Sie doch bestimmt."
Anne dachte kurz nach. Schließlich nickte sie entschieden
und meinte nüchtern: „Ein schlichtes braunes Wollgewand
wäre wohl das Richtige. Und ein Mantel, um Ihr Gesicht zu
verbergen."
Callie lächelte entzückt. „Ich verlasse mich auf Ihre Erfah-
rung, was Verkleidungen angeht."
„Nun, mit Verkleidungen kenne ich mich nicht besonders aus,
aber wie sich eine einfache Bürgerliche kleiden sollte, das weiß
ich natürlich." Anne deutete auf den Wandschirm und fuhr fort:
„Ich hole Ihnen das Kleid und den Mantel. Während ich weg
bin, ziehen Sie schon mal das Kleid aus."
„Eine Haube brauche ich
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