Sarah Maclean
Abenteuer. Callie ver-
zog das Gesicht und packte das Blatt Papier in der Hand fester.
Zweifel überkamen sie.
Sie hätte Anne mitkommen lassen sollen. Einsame Abenteuer
wurden doch eigentlich ziemlich überschätzt.
Aber sie konnte jetzt nicht nach Hause fahren. Nicht nach-
dem sie die ganze Mühe auf sich genommen hatte, Ralston um
eine Empfehlung und Anne um eine passende Verkleidung ge-
beten hatte. Unruhig zappelte sie unter dem groben Kleid he-
rum, da die Wolle trotz des Leinenhemdchens darunter kratzte.
Wenn sie sich die Kapuze des Mantels tief ins Gesicht zog, wür-
de niemand Notiz von ihr nehmen, wenn sie die Schenke betrat,
ein Glas Whisky bestellte und an einem Tisch im hinteren Be-
reich des Schankraums Platz nahm. Sie hatte sich von Anne be-
schreiben lassen, wie Wirtshäuser eingerichtet waren; sie kam
gut vorbereitet. Nun brauchte sie nur noch aus der Droschke
auszusteigen.
Leider schienen ihre Beine nicht bereit, ihr zu gehorchen.
Liste oder nicht Liste, das war hier die Frage.
Da wurde der Schlag geöffnet. Plötzlich blieb ihr gar keine
Wahl mehr. Der Kutscher fragte leicht verärgert: „Miss? Sie ha-
ben doch gesagt, es ginge ins Dog & Dove, oder nicht?"
Callie zerknüllte die Liste in ihrer Hand. „Ja."
„Na, da wären wir."
Sie nickte. „Sehr gut." Und dann stieg sie auf den Tritt, den
er für sie bereitgestellt hatte, und dankte ihm.
Sie konnte das. Callie nahm all ihren Mut zusammen, tat den
letzten Schritt auf die Straße und landete mit einem Ziegenle-
derstiefelchen prompt in einer schmutzigen Pfütze. Unwillkür-
lich schrie sie leise auf, sprang ins Trockene und drehte sich zu
dem Kutscher um, der sich nun prächtig zu amüsieren schien.
Er warf ihr ein freches Grinsen zu. „Passen Sie mal lieber auf,
wo Sie hintreten, Miss."
Callie sah ihn finster an. „Danke für den Ratschlag, guter
Mann."
Er legte den Kopf schief. „Sind Sie sicher, dass Sie hier blei-
ben wollen?"
Entschlossen straffte sie die Schultern. „Vollkommen sicher."
„Na, dann." Er tippte sich an die Mütze, sprang auf den
Kutschbock, schnalzte mit der Zunge und fuhr ab, auf der Su-
che nach neuer Kundschaft.
Sie richtete ihren Mantel und wandte sich zum Wirtshaus.
Die Liste hatte anscheinend gewonnen. Den Blick fest auf das
Pflaster geheftet, um nicht wieder einen falschen Schritt zu tun,
ging sie an den desinteressierten Gästen vor der Schenke vorbei
und hinein ins Innere.
Er sah sie, sowie sie die Schenke betrat.
Ihm war natürlich klar gewesen, dass sie Geschichte mit ih-
rem Bruder und dem Wirtshaus erfunden hatte. Schließlich be-
stand wenig Wahrscheinlichkeit, dass der Earl of Allendale die
Hilfe seiner Schwester brauchte, um eine geeignete Schenke
zu finden.
Was einen natürlich sofort zu der Frage brachte: warum um
alles in der Welt suchte Lady Calpurnia Hartwell nach einem
Wirtshaus?
Und was um alles in der Welt tat sie mitten in der Nacht in
diesem Wirtshaus? Kümmerte sie ihr Ruf denn gar nicht? Der
Ruf ihrer Familie? Und, liebe Güte, der Ruf seiner Schwester?
Er hatte Julianas Zukunft in ihre Hände gelegt, und nun kam
Lady Calpurnia völlig ungeniert in ein Wirtshaus spaziert. Da-
mit würde sie sich bestimmt in Schwierigkeiten bringen.
Ralston lehnte sich zurück, ein Glas Whisky in der Hand, die
ganze Aufmerksamkeit auf Callie gerichtet, die wie erstarrt in
der Tür stand und ebenso fasziniert wie entsetzt wirkte. Der
Schankraum war voller Leute in verschiedenen Stadien der
Trunkenheit. Er hatte ihr eines der ehrbareren Etablissements
in St. James genannt. Natürlich hätte er sie auch nach Hay-
market oder Cheapside schicken können, um ihr eine Lektion
zu erteilen, hatte aber - vollkommen zu Recht - angenommen,
dass diese Lokalität ausreichen würde, um sie aus der Fassung
zu bringen.
Sie raffte den Mantel enger um sich, ihr Blick huschte im
Raum umher, unsicher, wohin sie schauen sollte, um die Conte-
nance zu wahren, wie es die Erziehung von ihr verlangte. Lau-
tes Gelächter schreckte sie auf, und sie sah sich zu der Schar
Männer um, die zu ihrer Linken an einem langen Tisch saß.
Die Männer beäugten gerade die Aufwärterin, die auf dem
zerschrammten Eichentisch die Bierkrüge servierte und dabei
der geneigten Kundschaft ihre üppige Oberweite präsentierte.
Callies Augen wurde immer größer, als sie sah, wie ein beson-
ders verwegener Mann die kreischende Serviererin packte und
auf seinen Schoß zog, um
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