Sarah Maclean
Botschaft brachte.
Ralston nahm das Briefchen mit einem Nicken entgegen, dreh-
te das versiegelte Papier um und schob den Finger unter das
Wachssiegel.
Callie konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick auf das
Blatt Papier zu werfen. Die Botschaft war kurz, nur einen Au-
genblick zu sehen, ehe er das Blatt wieder zusammenlegte.
Doch Callie hatte die Botschaft gelesen - und ihre Bedeutung
verstanden.
Komm zu mir.
N.
Ralston und Nastasia waren immer noch ein Paar.
Callie unterdrückte ein Aufkeuchen, wandte sich abrupt ab
und tat so, als sei sie vollkommen in Bann geschlagen von der
Aufführung, die eben wieder begonnen hatte.
Ihr drehte sich der Kopf. Natürlich hätte sie das nicht überra-
schen sollen. Sie sollte nicht an den Abend neulich denken - an
den Verlobungsball und die Umarmimg in seiner Kutsche. Sie
sollte sich nicht fragen, warum er sie geküsst hatte, wenn er
doch noch mit Nastasia zusammen war.
Aber natürlich fragte sie sich das.
Und was war mit seiner Schwester? Bestimmt würde er der
Aufforderung nicht nachkommen. Nicht ausgerechnet an die-
sem Abend. Es war Julianas erster Abend in Gesellschaft!
Während der ersten beiden Szenen des zweiten Akts schwank-
te sie zwischen Kummer und Empörung. Als er zu Beginn der
dritten Szene aufstand und die Loge abrupt verließ, behielt die
Empörung die Oberhand.
Nein. Sie würde nicht zulassen, dass er seiner Schwester den
ersten Abend verdarb. Nicht nachdem Juliana sich so bemüht
hatte, dass es ein Erfolg wurde. Nicht nachdem Callie sich so
bemüht hatte, dass es ein Erfolg wurde. Ganz zu schweigen von
all den anderen, die sich für seine Schwester eingesetzt hatten.
Wie konnte er es nur wagen, alles aufs Spiel zu setzen? Und
wofür?
Ihr Zorn stieg. Sie straffte die Schultern. Irgendwer musste
an Juliana denken.
Sie wandte sich an Benedick und flüsterte: „Mir ist der Cham-
pagner anscheinend ein wenig zu Kopf gestiegen. Ich gehe kurz
nach draußen."
Ihr Bruder beugte sich vor und sah, dass auch Ralston die
Loge verlassen hatte. Er sah sie an und mahnte ruhig: „Keine
Abenteuer, Callie."
Sie rang sich ein Lächeln ab. „Keine Abenteuer."
Und damit ging sie aus der Loge.
Sie eilte durch die schwach erleuchteten Gänge des Opern-
hauses, fragte sich, ob sie Ralston finden würde, ehe er Julianas
Aussichten zunichtegemacht hatte. Callie hätte Allendale
House darauf gewettet, dass er sich in der Vergangenheit mehr
als einmal davongestohlen hatte, um seine Geliebte hier in der
Oper zu treffen - vermutlich kannte er den kürzesten Weg in
Miss Kritikos' Garderobe. Unwillkürlich stieß sie bei diesem
Gedanken einen kleinen Schrei der Empörung aus.
Sie bog um eine Ecke und gelangte in den oberen Wandel-
gang, wo sie Ralston sah, der auf die große Treppe zustrebte. Ein
Blick überzeugte sie, dass außer ihnen niemand anwesend war,
und so rief sie: „Ralston! Bleiben Sie stehen!"
Er erstarrte auf der obersten Stufe und warf einen ungläu-
bigen Blick in den Gang, aus dem sie herbeigeeilt kam. Sobald
er ihre Entschlossenheit sah, wandelte sich seine offenkundige
Fassungslosigkeit in Zorn. Er kehrte um, bis er ihr direkt gegen-
über stand.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, packte er sie am Arm und
zog sie in eine dunkle Nische. Wütend flüsterte er: „Sind Sie
übergeschnappt?"
Keuchend vor Anstrengung und Ärger, entriss sie ihm ihren
Arm und gab zurück: „Dasselbe könnte ich Sie fragen!"
Er ignorierte ihre Worte. „Was machen Sie hier außen? Wenn
man Sie sähe ..."
„Also bitte", unterbrach sie ihn. „Das hier ist ein öffentlicher
Ort. Was glauben Sie wohl, was passieren würde, wenn man
mich sähe? Jemand würde mir den Weg zur Damentoilette zei-
gen, und dorthin würde ich dann auch gehen. Aber was, wenn
man Sie sähe?"
Er sah sie an, als wäre sie verrückt. „Wovon reden Sie?"
„Sie sind nicht besonders diskret, Lord Ralston", spuckte sie
ihm entgegen. „Von jemandem, der sich solche Gedanken um
den Ruf seiner Schwester macht, könnte man eigentlich erwar-
ten, dass er sorgsamer mit seinem eigenen Ruf umgeht." Sie
stieß ihm den Finger in die Schulter. „Ich habe das Briefchen
gesehen. Ich weiß, dass Sie unterwegs sind zu Ihrer ... Ihrer ..."
„Meiner?", hakte er nach.
„Ihrer - Ihrer Geliebten!" Mit jedem Wort stach sie heftiger
auf ihn ein.
Beim letzten Wort packte er ihren Finger und schob ihn zur
Seite weg. Seine blauen Augen blitzten gefährlich.
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