Sarah Pauli 03 - Tod hinter dem Stephansdom
seinem Vater zugesehen, wie er an seinem Schreibtisch eine Arbeit verrichtete, von der Philipp nichts verstand.
» Ich tue das alles nur für euch « , hatte sein Vater mit zusammengekniffenen Augen oft behauptet. Philipp hasste diese Arbeit. Sie raubte seinem Vater Zeit. Zeit, mit ihm Fußball zu spielen. Zeit, mit ihm zu reden. Zeit, ihn zu umarmen. Viel später erst verstand Philipp, dass auch diese Behauptung nicht der Wahrheit entsprach. Sein Vater benutzte die Zeit gegen Philipp. Er gebrauchte sie, um seinen Sohn in die zweite Reihe zu stellen. Um sich ihm nicht widmen zu müssen. Wann immer er Zeit brauchte, holte er sie hervor. Und wie eine Hure ließ die Zeit ihn kommentarlos gewähren.
Als Kind hatte Philipp, wenn er wieder einmal enttäuscht worden war, dem Vater heimlich Schimpfnamen gegeben. Immer hatte er dann ein schlechtes Gewissen gehabt und gedacht, dass er doch dankbar sein müsste. Dabei wünschte er sich nur einen Vater, der sich für ihn interessierte.
Er hoffte plötzlich inständig, dass es seiner Tochter nicht so ging.
Zum ersten Mal in seinem Leben gestand Philipp Brand sich ein, was er im Innersten seines Herzens schon lange wusste. Sein Vater war ein verdammtes Arschloch gewesen.
Als er zu Hause ankam, hatte Anita sich beruhigt. Sie saß mit Lara, ihrer gemeinsamen Tochter, beim Abendessen. Er setzte sich dazu. Seine Frau reichte ihm Teller und Besteck, und seine Tochter erzählte, dass der Opa jetzt bei den Engeln im Himmel sei.
Seine Frau erwähnte die Hausdurchsuchung erst, als Lara im Bett war.
» Es war grauenhaft. Demütigend und grauenhaft. «
Sie verbat ihm, jemals in Gegenwart ihrer Tochter davon zu sprechen. Ihr Opa war tot. Mehr musste die Kleine im Moment nicht wissen. Philipp konnte seiner Frau keine befriedigenden Antworten auf ihre Fragen geben, weil er selbst nicht wusste, was genau passiert war. Er erzählte ihr von dem Treffen mit seiner Mutter und seiner Schwester.
» Hast du etwas anderes erwartet? « , war alles, was Anita dazu sagte. Und er musste sich eingestehen, dass er genau diese Reaktion erwartet hatte. Er stand auf.
» Ich geh’ mal nach oben. Nachschauen. «
Er zögerte, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, und überlegte, wann er zum letzten Mal die Wohnung seines Vaters betreten hatte. Es musste ungefähr einen Monat zurückliegen. Was er eigentlich nachschauen wollte, wusste er selber nicht genau. Briefe, Tagebücher, Fotoalben … Irgendetwas vielleicht, das ihm jene Seite seines Vaters offenbaren würde, die er nicht kannte.
Er stöberte etliche alte Fotos und ein paar Kinderzeichnungen auf aus der Zeit, als er selber und Romy noch klein waren. Sie waren nach Jahreszahlen in Schubläden sortiert. Mehr Persönliches fand er nicht. Die Wohnung seines Vaters wirkte so steril wie aus einem Wohnmagazin. Fehlte nur noch die Schüssel mit dem Deko-Obst aus Kunststoff. Er setzte sich in einen Sessel im Wohnzimmer und fühlte sich wie in der Wohnung eines Fremden. Gedankenverloren starrte er auf die Bücherwand. Sie reichte vom Boden bis zur Decke. Sein Vater war ein leidenschaftlicher Leser gewesen, das Einzige, das er mit ihm gemeinsam hatte.
Philipp Brand begann die Buchrücken zu lesen. Sie waren nach Gattungen geordnet, Romane, Politik, Geschichte. Sachbücher. Nur ein Kunstband passte nicht in diese Reihe, Vermeer, Sämtliche Gemälde, 1632 – 1675, Verhüllung der Gefühle. Seit wann interessierte sein Vater sich für Kunst? Seine Mutter wollte ab und zu, dass er sie zu Vernissagen oder in Ausstellungen begleitete. Soweit sich Philipp Brand erinnern konnte, hatte sein Vater sich immer mit Händen und Füßen erfolgreich dagegen gewehrt. Kunst war nicht seine Welt. Auch er, Philipp, verstand nichts davon. Doch noch eine Gemeinsamkeit. Er musste unweigerlich lächeln, als ihm das auffiel.
Er zog den Kunstband aus dem Regal hervor. Das Porträt einer jungen Frau zierte das Cover. Ihre Haare waren von einem gelben Turban und die Stirn von einem blauen Tuch verdeckt. Er schlug das Buch auf und las, dass es sich bei dem Titelbild um Vermeers berühmtestes Bild handelte, Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge.
Er blätterte ein wenig durch die Seiten, und als er im Begriff war, das Buch an seinen Platz zurückzustellen, glitt etwas heraus und segelte zu Boden. Er bückte sich, hob es auf und war überrascht. Was er da in seinen Händen hielt, war zweifellos ein Ultraschallbild.
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SARAH PAULI
A ls sie die Wohnungstür öffnete, kam ihr
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