Sarum
Leitung Aelfwines die sechs Mönche ein Leben, das in etwa der großen weisen Regel des heiligen Benedikt folgte.
Osric trat aus der Kapelle. Im Morgengrauen hatten hier die sechs Mönche das erste der sieben Offizien des Tages gesungen. Vor der nächsten, der Prime, mußte er den kleinen Hof vor der Kapelle fegen, und vor der dritten Andacht, der Terz, hatte er das bescheidene Mahl, das prandium, zuzubereiten. Doch zwischen Terz und Mittag, wenn die kleine Glocke zum Essen rief, hatte er etwa zwei Stunden frei. Wie immer wollte er die Zeit draußen im Moor fern von den Mönchen verbringen.
Das hatte seinen Grund. Vor der Kapelle sprach er laut ein Schlußgebet: »Bitte, lieber Gott, erlaube nicht, daß Aelfwine mich wieder berührt.« Warum hatte der Sohn des Thans beschlossen, Mönch zu werden? Manche in Sarum glaubten, er könnte es nicht mit der Stärke und Tapferkeit seiner Brüder aufnehmen. Aelfwine war zwar nicht schwach – in jeder anderen Familie wäre er nicht aufgefallen –, doch mit seinen Brüdern und seiner Schwester konnte er sich nicht messen. Was auch seine Gründe gewesen sein mochten – im Alter von fünfzehn Jahren teilte er seiner Familie mit, daß er Mönch werden wollte, und seitdem hatte er seine Meinung nicht geändert. Er war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, ein hellhäutiger, magerer junger Mann, meist eher zurückhaltend, doch seine blaßblauen Augen leuchteten mitunter in einer unnatürlichen Intensität. Osric schien es, als lächelte er zuviel.
Zuerst war nichts geschehen. Der junge Mann war freundlich zu Osric, den sein Vater geschickt hatte. Er gab ihm wöchentlich religiöse Unterweisung und sandte von Zeit zu Zeit positive Berichte über ihn nach Avonsford. Die übrigen Mönche waren ebenso freundlich zu ihm, leiteten ihn bei den täglichen Arbeiten an, die nicht allzu beschwerlich waren. Auf dem Stück Land, das seine Familie von dem Than gepachtet hatte, war die Arbeit viel härter. Während des Unterrichts ging Aelfwine gelegentlich im Raum auf und ab, ein- oder zweimal blieb er stehen und legte seine Hand auf den Kopf des Jungen – eine Geste, die Osric anfangs kaum wahrnahm.
Er dachte sich auch noch nicht viel, als Aelfwine ihm eines Tages die Hand leicht auf den Oberschenkel legte. Das war schließlich nichts Besonderes. Osric sah zum Sohn des Thans auf, auch wenn er ihn nicht so gern hatte wie Aelfgifu oder die anderen Brüder. Es ehrte ihn, daß Aelfwine ihm Zeichen seiner Zuneigung gab.
Wenn er die kleine Glocke an der Seite der Kapelle läutete und die Mönche zum Gebet kamen, lächelte der junge Mann ihm meist freundlich zu. Und wenn er Aelfwine und die anderen Mönche auf ihren Gängen über das weite Land an den Fluß oder den Hafen begleiten durfte, kam er fröhlich zurück. Doch einmal, als Aelfwine mit ihm allein spazierenging und den Arm um ihn legte, fühlte er sich unbehaglich. Er spürte, wie sein Körper sich versteifte, und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er war froh, als Aelfwine nach einiger Zeit den Arm wegnahm. Eines Abends im Spätherbst geschah dann etwas Schlimmes.
Osric war allein in der Küche und bereitete das Essen für die Mönche zu. In der Ecke prasselte das Feuer, und deshalb hörte er Aelfwine nicht hereinkommen. Als er sich umwandte, stand der Mönch nah bei ihm. Plötzlich kam er mit – vielleicht durch den Feuerschein – gerötetem Gesicht näher. Auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißtropfen, seine Augen funkelten Osric vielsagend an, doch der verstand nichts. Bevor der Junge wußte, wie ihm geschah, hatte Aelfwine ihn in die Arme genommen und preßte ihn an sich. Als er mit offenem Mund und mit angstgeweiteten Augen hochsah, gab ihm der Sohn des Thans einen Kuß. Osric erschrak zutiefst. Er wehrte sich heftig, doch gegen die Kraft des Älteren kam er nicht an.
Schließlich ließ Aelfwine ihn los. »Denke daran, Osric, ich bin dein Freund.«
Gleich darauf war der Junge, hochrot und atemlos, wieder allein. Was bedeutete das? Von jenem Abend an führte er ein unfrohes Dasein. Er hatte das Gefühl, daß Aelfwine ihn überall beobachtete, auf jede Gelegenheit wartete, sich ihm zu nähern. In der Kapelle, während der Arbeit, in der Küche, selbst auf seinen einsamen Spaziergängen war er plötzlich da, immer lächelnd, legte seinen Arm um ihn, streichelte ihn und fuhr ihm mit der Hand durch das braune Haar. Osric dachte nur noch darüber nach, wie er dem entkommen konnte.
Er hatte Angst, darüber zu sprechen, und
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