Sarum
er konnte auch niemanden um Rat fragen. Er wußte, daß die übrigen Mönche sich ein wenig vor Aelfwine fürchteten und sicher nichts sagen würden, was ihn beleidigt hätte. Aelfwine, der Sohn eines großen Than, leitete das Kloster. Was konnte er, Osric, dagegen ausrichten? Er war nur der Sohn eines armen Schreiners. Bei seinem Besuch in Avonsford, als der Than und sein Vater ihn ausfragten, zögerte er, offen zu sprechen: Vor dem Than war er verlegen, und vor seinem Vater schämte er sich.
Dann war das Unglaubliche geschehen: Aelfwald hatte gesagt, er werde ihn nach Canterbury schicken. Deshalb flüsterte Osric jetzt jeden Morgen vor sich hin: »Nur noch sechs Monate…«
An jenem Morgen lagen Nebelschwaden über dem Moor und hüllten Twyneham ein. Osric kannte die Gegend jedoch gut. Und so machte er sich in der Morgenpause schnell auf und lief Richtung Hafen. Jedes Gebüsch, jedes Binsenbüschel, alles war ihm vertraut, während er halb erfroren auf dem sumpfigen Grund unterwegs war. Der Nebel wirbelte um ihn her.
Heute wird er mir jedenfalls nicht folgen, dachte der Junge, und eine Zeitlang war er guter Laune. Doch auf halbem Wege hielt er inne – es war ihm, als hätte er etwas gehört. Er lauschte, dann schüttelte er den Kopf und ging weiter. Kurz darauf blieb er wieder stehen. Vorsichtig näherte er sich dem Fluß. Dann sah er das Schiff, das sich in etwa zehn Meter Entfernung langsam und geräuschlos durch den Nebel auf Twyneham zubewegte. Achtzehn Ruderpaare tauchten leicht ins Wasser ein, der hohe Bug glitt ruhig dahin. Die runden, schwarzgelben Schilde an der Seite des Großbootes sagten Osric, um welches Schiff es sich handelte.
»Wikinger«, flüsterte er. Er wandte sich um und rannte fast blind vor Angst zurück. Mitten im Moor, schon völlig außer Atem, stieß er auf eine große Gestalt, die ihn in die Arme riß. Beide stürzten zu Boden. Es war Aelfwine. Während er Osric fest im Arm hielt, lächelte er. Die Nebeltropfen hingen auf seiner wollenen Kutte und in seinem dichten hellen Haar. »Niemand kann uns sehen«, flüsterte er.
»Wikinger!« schrie Osric und versuchte vergeblich freizukommen. »Im Hafen! Laß mich los!«
Es nützte nichts. Aelfwine schüttelte mit breitem Lächeln den Kopf. Sein Gesicht kam näher. Osric hatte nur eine Chance. Er machte sich ganz locker, ließ sich von Aelfwine küssen. Gleich darauf spürte er, wie sich die Umarmung löste.
Aelfwine trat lächelnd zurück. »So ist’s schon besser«, murmelte er und sah den Jungen liebevoll an.
Da stieß Osric so fest wie möglich zu, und während Aelfwine sich vor Schmerzen krümmte, rappelte sich der Junge auf und lief zum Kloster. Er hörte Aelfwine hinter sich fluchen, aber er kannte den Weg besser. Während er, so schnell er konnte, über das gefrorene Moor rannte, hatte er nur einen einzigen Gedanken: Er mußte die Leute in der Siedlung warnen.
Völlig außer Atem stürzte er in den Hof, aber da war niemand. Er sah sich voller Panik um. Wie konnte er die Menschen in Twyneham auf der anderen Seite des Flusses nur warnen? Da sah er die Glocke. Gleich darauf hörten die Mönche Osric wie wahnsinnig die Glocke läuten, aber es war nicht das gleichmäßige Geläute wie sonst, sondern ein verzweifelter metallener Ton, der durch den Nebel drang. Da humpelte Aelfwine bleich vor Zorn auf ihn zu. »Wikinger!« schrie Osric. »Wikinger!«
Die Mönche sahen einander an. Wovon sprach der Junge überhaupt? Die Wikinger tauchten doch nie in den Wintermonaten auf! Aelfwine begriff als erster. Mit ein paar Schritten war er bei Osric und zog ihn vom Glockenseil weg.
»Ruhe!« Er starrte Osric an. »Du hast also Wikinger gesehen? Ein Boot?« Osric nickte. »Dann hättest du nie die Glocke läuten dürfen«, sagte Aelfwine und ließ den Jungen los. Als er sich umblickte, verstand Osric, was Aelfwine meinte. Der Nebel wurde dichter. Auf der Lichtung am Waldrand waren ihre Klostergebäude jetzt nicht zu sehen. Aber er hatte den Wikingern ihren Aufenthalt verraten. Als er in die entsetzten Gesichter ringsum sah, war er zutiefst beschämt.
Alle standen und lauschten gespannt. Da sagte Aelfwine: »Wir sind sicherer im Wald.«
Damit hatte er recht. Sie konnten landeinwärts gehen. Wenn die Wikinger das kleine Kloster verlassen fanden, würden sie es vielleicht anzünden, doch sie würden sich wohl nicht die Mühe machen, nach ein paar Mönchen zu suchen. Lautlos bewegten sich die sechs Männer und der Junge auf die schützenden
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