Sarum
ihrer gleichmäßigen, in genauester Ordnung ablaufenden Tätigkeit zu, bei der sie in ihren weitläufigen Bereichen von der übrigen Welt abgeschirmt waren. Nachts blieb er jetzt öfters im Quartier der Steinmetzen, einer langen Reihe massiver Holzhütten an der Nordost-Peripherie der Einfriedung, und er begnügte sich damit, in respektvollem Abstand von den Männern sitzend ihren Gesprächen zu lauschen. Seine ehrgeizigen Pläne behielt er für sich. Die Zunft der Steinmetzen war eine festgefügte, in sich geschlossene Bruderschaft. Selbst wenn ihnen ein neuer Lehrling bekannt war, hatte er gehorsam seine Pflicht zu erfüllen und zu warten, bis er angesprochen wurde. Es gab einen Gegenstand auf der Baustelle, der Osmund faszinierte: Im Ostteil der Kathedrale, wo die erste Kapelle, niedriger als das Hauptschiff der Kirche, bereits überdacht war, hatte Elias de Dereham ein großes Holzmodell auf einem Tisch aufgebaut – die Kathedrale in ihrer endgültigen Gestalt.
Das Bauwerk, das Osmund da besichtigte, bestand aus einem langen, schmalen Baukörper, dessen einfache rechteckige Grundkontur nur durch die ausladenden Querschiffe in der Mitte unterbrochen wurde, die dem Grundriß insgesamt die Form eines Kreuzes verliehen, und zwei kleineren Querschiffen zum Ostteil hin. Über der Vierung teilte ein niedriger quadratischer Turm, der sich etwa sechs Meter über das Dach erhob und selbst mit einem Flachdach abschloß, die lange Dachlinie in zwei gleiche Hälften. Dies war der richtungweisende Entwurf für zahlreiche große Kirchen im gesamteuropäischen Raum zu jener Zeit, und seine klaren langgestreckten Horizontalen waren die Quintessenz der Einfachheit.
Doch wie vornehm wirkte das alles! Während die alten normannischen Kirchen, wie etwa die Kathedrale auf dem Burghügel, gedrungene, schwerfällige Bastionen mit Rundbögen und schmalen Fenstern in festungsgleichen Mauern waren, bildete dieses neue Bauwerk ein leichtes, luftiges Gehäuse. Seine schlichten Spitzbogenfenster stiegen in zwei Reihen übereinander auf – große Glasflächen, die auf vollendete Weise die hohen schmucklosen Wände aus dem grauen Stein von Chilmark gliederten. Nichts, so meinte Osmund, konnte reiner, natürlicher sein. Eines Tages, als er ganz vertieft in den Anblick des Modells war, hörte er eine Stimme neben sich: »Gefällt dir das Bauwerk?« Ein älterer Mann mit einer breiten fliehenden Stirn und einer Hakennase stand da und sah neugierig auf ihn hinunter. Osmund überlegte, wer das sein konnte.
»Es ist so…«, er zögerte, »so einfach«, sagte er ehrlich. Zu seiner Überraschung lächelte der alte Mann. »Die schönsten Dinge sind immer einfach. Du siehst diese Fenster – bemerkst du, daß auch nicht die leiseste Andeutung von Maßwerk zu sehen ist? Jenseits des Kanals finden sich die aufwendigsten Beispiele von Bauplastik an den Fenstern und in den Gewölben«, fügte er hinzu, »aber mir gefällt das nicht. Es ist nicht Sarum«, lächelte er, »einfach nicht Sarum.«
»Ich glaube, es wird die größte Kathedrale der Welt«, sagte Osmund. Der Planer lachte: »O nein! Die Kathedrale von Amiens in Frankreich ist zweimal so groß wie unsere Kirche«, fuhr er aufgeräumt fort, »doch wenn du in der einen oder der anderen stehst, siehst du keinen Unterschied. Und warum nicht? Weil die Proportionen vollkommen sind.« Es war Osmund inzwischen klargeworden, wer der Mann sein mußte. Er wunderte sich, daß eine so bedeutende Persönlichkeit sich mit ihm unterhielt.
Domherr Elias de Dereham schenkte ihm einen freundlichen Blick. »Und du bist ein Steinmetz, junger Mann?«
»Noch nicht, Herr«, antwortete er bescheiden, »aber ich möchte einer werden.«
»Kannst du mit dem Meißel umgehen?«
Osmund wußte, daß er mit dem Schnitzmesser umgehen konnte, mit dem Meißel sicher ebenso. »Ja«, antwortete er, ohne zu zögern. Der alte Mann nickte und ging weiter.
Zwei Tage danach trat ein Steinmetz während der Arbeit auf Osmund zu und stellte ihm Fragen. »Möchtest du Steinmetz werden?« Er nickte.
»Wenn du in unsere Zunft aufgenommen werden und die Geheimnisse der Steinmetzkunst erlernen willst, mußt du unserem Lehrling zur Hand gehen, bis wir entscheiden, ob du würdig bist.« Osmund neigte den Kopf.
»Nun gut«, sagte der Mann kurz angebunden. »Melde dich bei Bartholomew. Er ist dein Mentor.« Dann ging er.
Der Lehrling Bartholomew war zwei Jahre älter als Osmund, ein blasser, griesgrämiger Bursche mit einem schwarzen,
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