Sarum
sein.«
Sie strich Alicia das Haar sanft aus dem Gesicht und steckte es hinten zusammen. »Du bist jetzt eine Frau und brauchst einen älteren Mann, keinen Jungen.«
Alicia errötete. Die Worte kamen ihrer Stimmung entgegen, aber sie überlegte, was jetzt wohl folgen mochte; offensichtlich etwas ganz Außergewöhnliches, denn sie hatte das Gesicht ihrer Mutter noch nie so konzentriert gesehen. Zu ihrem Erstaunen zog ihr die Mutter das einfache kindliche bliaut, das Obergewand und das Leinenkleid aus und streifte ihr einen weißen Seidenunterrock über. Alicias Augen weiteten sich vor Entzücken, als die Seide in weichen Falten um ihren Körper spielte. Sie hatte so etwas nie zuvor getragen.
»Du hast eine hübsche Brust«, sagte ihre Mutter geradeheraus. »Wir werden sie ein bißchen zeigen.«
Aus der großen Truhe neben ihrem Bett holte sie ein reich besticktes, blau-goldenes Kleid, das, in der Taille leicht von einer goldenen Kordel gehalten, bis zum Boden reichte. Vorn, wo das Mieder geschnürt wurde, ließ die Mutter die Ausschnittlinie so weit wie möglich offen, so daß Alicias junge Brüste unter der Seide nach vorn drängten; darüber errötete das Mädchen erneut. Als nächstes faltete die Mutter ein feines Leinentuch um ihren Kopf und setzte die Leinenhaube wie eine Krone darauf. Alicia stand vor dem glänzenden Bronzespiegel in der Zimmerecke und betrachtete sich. Sie hatte nicht gewußt, daß sie so aussehen konnte, und der Anblick der neuen Person, die die Mutter soeben aus ihr gemacht hatte, ließ ihr das Herz vor Freude hüpfen. »Wem gebührt all diese Ehre?« fragte sie.
»Dein Vater hat einen einflußreichen Freund in Winchester«, erklärte die Mutter. »Dein Bruder bringt ihn heute abend her. Er heißt Geoffrey de Whiteheath.«
Alicia hatte ihren Vater schon respektvoll über ihn sprechen hören. »Er würde großartig zu dir passen«, fuhr die Mutter fort, »er ist ein Ritter mit einem schönen Besitz. Seine Frau und sein Sohn sind letztes Jahr bei einem Brand ums Leben gekommen. Jetzt möchte er einen Erben.«
»Wird Vater mich zwingen, ihn zu heiraten?«
Die Mutter zögerte. »Nein. Aber er hofft, daß du ihn heiratest. Er und dein Bruder hatten einige Mühe, es in die Wege zu leiten.«
»Ist er denn sehr alt?« fragte Alicia besorgt.
Die Mutter lachte. »Nein. Etwas grau an den Schläfen, aber das kann einen Mann nur schöner machen, weißt du.« Sie lächelte. »Er wird bald hier sein.«
Alicia ging als erste die Treppen hinunter. Sie kam sich in dem langen Kleid sehr erwachsen vor – zu erwachsen für Peter Shockley, dachte sie. Vielleicht würde dieser Ritter sie zu schätzen wissen.
Die dritte der sieben Hauptsünden, die Osmund, den Steinhauer, peinigte, kroch ganz langsam auf ihn zu, ehe sie ihn endlich überraschte. Sein Leben als Steinhauer in der Kathedrale befriedigte ihn aufs höchste; wenn er die stille Einfriedung betrat, tat sich ihm eine andere Welt auf.
Auf Weisung des Kanonikus war er als Lehrling eine Stufe über der kleinen Armee von etwa zweihundert Handlangern eingestellt worden, die die Steine bewegten und den Schutt wegkarrten, doch war er eine unbedeutende und nahezu unbemerkte Figur am Rande der fünfzig Steinmetzen, von denen die Meister eine kleine ehrwürdige Elite bildeten. Über den Meistersteinmetzen standen der hochgeehrte Meister aller Meister, Nicholas von Ely, und sein Stellvertreter Robert, den Osmund bei der Beaufsichtigung der Arbeiten oft sah, den er jedoch noch nie anzusprechen gewagt hatte; und fast gottgleich, höher geehrt von den Bauleuten als selbst der Bischof, war Elias de Dereham, der planende Architekt der Kathedrale.
Er hatte auch andere Gebäude entworfen, darunter den ehrwürdigen Schrein des heiligen Thomas Becket in Canterbury, doch Salisbury sollte sein Meisterstück werden. Elias war nun ein alter Mann und hielt sich zur Zeit nicht in der Stadt auf.
Die Steinmetzen ließen Osmund als Lehrling gelten, doch da keiner etwas über ihn wußte, wurde seine Existenz auch von den übrigen Lehrlingen kaum wahrgenommen. Das hätte ihn entmutigen können, doch eines spürte er vom ersten Tag der Arbeit an genau: Hier war sein Platz. Vorläufig war er als Aushilfsarbeiter eingesetzt, und es wurden ihm nur die niedrigsten Aufgaben zugeteilt wie etwa das Auseinandersägen der grauen Steinblöcke. Doch er war zufrieden.
An den langen, heißen, staubigen Tagen im langsam wachsenden Schatten der Kathedrale sah er gern den Bauleuten bei
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