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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Osmund aus reiner Neugier zu ihr hin, tat so, als sähe er zu, wie eine Figur in ihrer Nische aufgestellt wurde, und betrachtete das Mädchen genauer. Sie sah wirklich nicht wie ein Kind Bartholomews aus, aber Osmund erinnerte sich nun, daß man ihm erzählt habe, der große Steinmetz mit der schwärenden Wunde habe zum Glück eine hübsche Frau gefunden. Offenbar schlug das Mädchen nach seiner Mutter.
    Obwohl er sie nicht allzu aufmerksam betrachten wollte, bemerkte sein Künstlerauge unter ihrem Leinengewand einen schmalen, doch wohlgeformten Körper, der etwas länger als die Beine und um die Taille leicht füllig war, was nicht unangenehm aussah. Ihre Augen waren hellblau, die Haut blaß und makellos. Ihr blondes Haar war mit einem Band zusammengehalten und hing im Rücken lose bis zur Taille. Als ein Sonnenstrahl darauf fiel, sah Osmund einen roten Schimmer darin.
    Es war seine Gewohnheit, sich bei jedem auffallenden Gesicht zu fragen, wie man es in Stein meißeln könnte, und so studierte er den Ausdruck des Mädchens eingehend. Hatte sie trotz ihres anderen Aussehens vielleicht doch den Charakter ihres Vaters geerbt? Es war auf den ersten Blick ein einfaches, ovales Gesicht mit einem weichen, unschuldigen Ausdruck, doch meinte Osmund etwas im Augenschnitt und im Spiel der Lippen auszumachen, das – er versuchte es einzuordnen – irgendwie verschlagen, wollüstig war.
    Im Juni wurde Osmund mit dem großartigen neuen Projekt bekannt gemacht, das das Glanzstück seines Lebens werden sollte. Er wurde ins Quartier des Hauptsteinmetzen Robert gerufen. Dort traf er zwei weitere Steinmetzen an, einer kam aus London, der andere aus Frankreich – beides Männer, deren Arbeit er außerordentlich schätzte. Robert selbst, der Jahre zuvor die Nachfolge des großen Nicholas von Ely angetreten hatte, war nun ein grauhaariger Mann. Er empfing sie höflich.
    »Ihr seid die drei besten Steinmetzen«, sagte er ohne Schmeichelei. »Ich habe ein großes Projekt für Euch.« Ohne viele Umschweife breitete er einige große Entwürfe auf Pergament auf dem Tisch aus. »Es ist der Kapitelsaal«, begann er.
    Dieser Nebenbau, eine der Kostbarkeiten der Kathedrale, hielt sich im Modell eng an den Kapitelsaal von Heinrichs III. neuer Kirche, der Westminster Abbey. Er war wundervoll. Wie in Westminster bestand er aus einem einzigen hohen, achtseitigen Raum, hatte einen Durchmesser von siebzehn Metern, und in der Mitte ragte ein einziger schlanker Pfeiler etwa neun Meter in die Höhe, bevor er sich wie eine Palme oder Blüte teilte, wodurch sich die Rippen des einfachen Gewölbes bildeten. Der klare, fast anspruchslose Raum war nahezu vollendet. »Nun, hier, in der großen Eingangsarkade, und dort«, Robert deutete auf die unteren Wände des Oktogons, »haben wir Wichtiges vor.« Die drei Männer beugten sich aufmerksam über die Pläne, während Robert jede Einzelheit erläuterte.
    Es war ein aufwendiger Entwurf, den der Dekan und das Domkapitel genehmigt hatten. In der weiten Eingangsarkade sollten beidseitig je sieben Nischen, übereinander in der Laibung angeordnet, an der Spitze zusammentreffen. In jeder sollte ein Paar freistehender Statuen Platz finden – eine Frau in fließenden Gewändern, eine der vierzehn Tugenden darstellend, und, geduckt zu ihren Füßen, das entsprechende Laster. So würde die Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit, die Geduld den Ärger, die Demut den Stolz bezwingen. Es war ein schöner Gedanke und eine kühne technische Herausforderung.
    Die Ausschmückung des Saals regte jedoch Osmunds Phantasie noch mehr an, denn über den steinernen Sitzen sollten in den Bogenzwickeln der kleinen Arkaden eine Reihe feiner Reliefs biblische Szenen von der Erschaffung der Welt bis zur Verkündigung der Zehn Gebote zeigen. »Es sollen sechzig Szenen werden«, führte Robert aus, »die sich in folgende Gruppen teilen: Schöpfung, Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Noah, der Turm zu Babel, Abraham, Sodom und Gomorrha, die Opferung Isaaks, Jakob, Joseph, Moses.« Er sah die drei Männer an. »Ich möchte, daß Ihr Entwürfe anfertigt. Teilt die Arbeit unter Euch auf, wie Ihr wollt. Dann besprechen wir die Sache noch einmal.« Die beiden Mitarbeiter erklärten Osmund, sie seien mehr an den voll skulptierten Figuren an der Arkade als an den Basreliefs im Kapitelhaus interessiert. Ihrer Ansicht nach waren Reliefs eher etwas für mindere Hände. Osmund verneigte sich ergeben.
    »Dann entwerfe ich die Reliefs«, sagte er

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