Sarum
er das Mädchen durchs Langhaus herankommen sah. Er dachte, es sei niemand sonst anwesend, und trat etwas zurück, um sie unbemerkt beobachten zu können. Er hörte sie summen, und als sie auf die Tür zum Kreuzgang, nur zehn Meter von ihm entfernt, zuging, fingen sich die Sonnenstrahlen in ihrem Haar. Da schoß ihm ein wahnsinniger, irrwitziger Gedanke durch den Kopf, und fast hätte er laut geschrien: Ich muß sie haben, und wenn ich sterbe – ich muß dieses Mädchen haben! Ganz erfüllt von dieser Vorstellung, trat er aus seinem Versteck in das vermeintlich leere Kirchenschiff. Aber es war nicht leer. Im Querschiff gegenüber sah er eine dunkle Gestalt, bewegungslos wie eine Statue, die ihn anblickte. Osmund hielt inne.
Kanonikus Stephen Portehors, sehr schmal, auf einen Stock gestützt, mit weißem Haar und schrecklich durchdringenden, dunklen Augen, starrte ihn mit einem wissenden Blick an.
Es fiel kein einziges Wort, doch der zitternde Steinmetz ahnte: Portehors wußte Bescheid.
Am nächsten Morgen bemerkte er eine neue, eben fertiggestellte Figur an der Arkade zum Kapitelsaal, die ruhevolle Gestalt der reinen Jungfrau, ihr zu Füßen, bezwungen, die Begierde. Bei diesem Anblick neigte Osmund beschämt sein Haupt.
Von diesem Tag an bewegte er sich wie ein Mönch mit gesenktem Blick. Die nächsten drei Monate bis Weihnachten waren die Augen des Steinmetzen auf den Boden oder auf seine Arbeit gerichtet, er sah weder links noch rechts, und so hielt er die Todsünde der Wollust in Schach.
Nachdem er sich nicht mehr ablenken ließ, fand Osmund neue Befriedigung in seiner Arbeit. Jede der Reliefszenen, die am Ende einen umlaufenden Fries an der Wand des Kapitelsaals bilden sollten, fand ihren Platz in einem der Bogenzwickel, die sich nach oben zu einem Rechteck erweiterten; dies gestattete dem Künstler viele ausdrucksvolle Gestaltungsmöglichkeiten. Die erste Szene links am Eingang zeigte Gott, der, die Wolken teilend, das Licht erschafft; auf der zweiten sah man den bärtigen Gottvater mit erhobener Hand bei der Erschaffung des Firmaments; die folgenden Szenen mit den weiteren Schöpfungstagen wurden alle zu Osmunds Zufriedenheit fertiggestellt, bis auf die sechste, viel umfassendere, denn hier mußte er die Erschaffung der Tiere und die Adams und Evas darstellen, was ein schwieriges Ineinandergreifen der Formen verlangte.
Nach mehreren Versuchen legte er diese Arbeit beiseite und vollendete die nächste, viel einfachere Szene: der siebte Tag, an dem Gott ruhte. Nun aber zeigte sich eine neue technische Schwierigkeit, denn der Entwurf erforderte weitere fünf Szenen aus der Geschichte Adams und Evas, und hier, ganz gleich, was Osmund auch versuchte, blieb sein Adam leblos, und Eva entzog sich ihm völlig. Das war ein großes Problem. Wie kann ich ihn nur formen – wie muß er aussehen? Und wie kann ich sie nur fassen? grübelte er. Sie muß reine Jungfrau und dabei Mutter aller Menschen sein; sie ist zuerst unschuldig, doch dann verführt sie Adam zur Erbsünde – reine Frau, lüsterne Hure, Weib und Mutter. Die Widersprüche überstiegen sein Können. Mit einem Seufzer stellte er diese Reliefs beiseite und nahm die drei Szenen mit Kain und Abel in Angriff. Daran arbeitete er bis Weihnachten.
Am Weihnachtsvorabend sah er Cristina wieder durch eigene Schuld. Beim Verlassen der Kirche fühlte er sich ganz entspannt und hob endlich einmal wieder den Blick vom Boden. Sie kniete vor einem kleinen Seitenaltar, wo Kerzen brannten. Das Haar fiel ihr lose auf den Rücken, und ihr Gesicht, das Gesicht eines Engels, war nach oben gewandt. Er starrte sie an. Wieder überrollte ihn die Begierde so stark wie eh und je. Er spürte einen unbezähmbaren Drang, das Gesicht des Mädchens in seine Hände zu nehmen und es zu küssen.
»Versucherin«, murmelte er ärgerlich, »als Engel verkleidet.« Er eilte aus der Kathedrale fort nach Avonsford und schwor sich, nie wieder die Augen von der Arbeit abzuwenden.
Im neuen Jahr begann Osmund mit Noahs Geschichte. Im März hatte er schöne Szenen mit dem Turmbau zu Babel vollendet, zwei Szenen aus dem Leben Abrahams und das herrliche Relief vom Untergang Sodoms und Gomorrhas. Er zeigte sie Robert und den Domherren, und sie zollten ihm hohes Lob.
Am 25. März 1266 fand ein großes Ereignis in Sarum statt. Denn an diesem Tag war der Gesamtbau der neuen Kathedrale nach sechsundzwanzig Jahren harter Arbeit und mit dem unerhörten Aufwand von zweiundvierzigtausend englischen Mark
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