Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
unbekümmert dreinzusehen. »Du bist Bartholomews Tochter?« fragte er. Er hatte erwartet, daß sie bescheiden den Blick senken würde; statt dessen starrte sie ihn neugierig an. »Ja.«
    »Und wie heißt du?«
    »Cristina.«
    »Weiß dein Vater, daß du hier bist?« fragte er so, als wollte er einen von den jungen Steinmetzen schicken, um ihn zu holen. »Ja.«
    Sie sah ihn immer noch unverwandt an. War da ein belustigtes Funkeln in ihren Augen? Hatte sie ihn doch gesehen und teilte jetzt das Geheimnis mit ihm? Es lag etwas Verschwörerisches in ihrem Blick. Er nickte ihr kurz zu und wandte sich rasch ab, um seine Verwirrung zu verbergen.
    Von da an geriet der kleine Steinmetz immer stärker in den Bann des Mädchens, statt sich ihm allmählich zu entziehen. Überall glaubte er sie vor sich zu sehen. Sie war um ihn bei der Arbeit, in der Stadt, im Tal oder zu Hause. Er konnte sich kaum auf sein Tun konzentrieren. Und es wurde immer schlimmer. Osmund wußte, daß Bartholomews Wohnung in dem Geviert nordöstlich vom Marktplatz in einer Zeile lag, wo in kleinen Werkstätten Tuch gewalkt, geschoren und auf Spannrahmen in den Parzellen hinter den Häusern zum Trocknen aufgehängt wurde. Osmund nahm nun jeden Abend diesen Umweg nach Hause, blieb häufig stehen mit der Ausrede, er wollte sich mit einem Tuchmacher unterhalten, denn er hoffte, des Mädchens ansichtig zu werden. Gelegentlich kam sie vorbei, aber dann nickte er ihr nur kurz zu und versuchte zur Tarnung seiner wirklichen Gefühle mißbilligend dreinzusehen.
    Ihre Vision verfolgte ihn bis nach Hause, öfters fuhr er nun seine Frau ohne ersichtlichen Grund an. An manchen Abenden konnte er kaum etwas zu sich nehmen, stocherte nur lustlos im Essen herum. Seine Frau war nicht weiter beunruhigt deshalb. Sie hatten so viele Jahre friedlich zusammengelebt – weder in übergroßer Liebe noch mit Abneigung –, daß sie seine Stimmung erraten konnte, bevor sie zum Ausbruch kam. Sie beruhigte die Kinder auf ihre kühle sanfte Art: »Euer Vater ist ärgerlich, weil es mit seiner Arbeit nicht vorangeht.« So behielt Osmund seinen Kummer für sich.
    Manchmal, wenn er abends mit seiner Frau allein war, waren seine Gedanken so erfüllt von dem Mädchen, daß er sich gereizt von ihr abwendete, sich in Schweigen hüllte und sie einfach nicht beachtete. Dann tanzte Cristina vor ihm in seiner Phantasie. Oder er war durch die Gedanken an sie derart erregt, daß er seine angestaute Begierde plötzlich auf seine Frau übertrug und wie wild über sie herfiel, bis sie keuchte und ihr der Schweiß ausbrach.
    Irgendwie gelang es ihm, mit der Arbeit fortzufahren, und Anfang September legte er Robert seine Entwürfe für den Kapitelsaal vor. Er war zwar immer noch nicht damit zufrieden, doch die Domherren waren nach einigen Änderungen einverstanden, und Osmund sollte mit der Arbeit beginnen. Osmund war jedoch von vielen Szenen enttäuscht. Den menschlichen Gestalten fehlte es an Leben und Bewegung, und mochten auch die Domherren zugestimmt haben – Osmund schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte erbittert: »Es liegt an dem Mädchen. Sie ist mein Fluch. Aber es ist meine eigene Schuld – elender Sünder, der ich bin.«
    Als der September dem Ende zuging, wußte Osmund, daß er den Zauber irgendwie brechen mußte. Er ging nicht mehr an Bartholomews Haus vorbei. Und wenn ihm das Mädchen in den Sinn kam, zwang er sich zu anderen Gedanken. Ein paar Tage lang ging alles gut, und er arbeitete wieder zufrieden vor sich hin, doch dann tauchte sie unerwartet in der Kathedrale oder irgendwo auf der Straße auf, und trotz seiner Bemühungen kehrten seine Gefühle für sie zurück. Er ging wieder in die Kapelle, kniete nieder und betete verzweifelt: »Lieber Gott, führe mich nicht in Versuchung.«
    Dies, das wußte er wohl, war die Todsünde der Wollust. Aber die Sünde war nicht sein größter Kummer – nun wurde er von einer neuen Furcht gepeinigt, der Furcht vor Entdeckung. Seine Begierde wurde so stark, daß er glaubte, die anderen müßten es bemerken. Voller Angst blickte er auf seine Mitarbeiter, ob sie sich wohl über ihn lustig machten. Zu Hause erwartete er die Vorwürfe seiner Frau. Als er eines Tages Bartholomew begegnete, stellte er entsetzt fest, daß er seinem ehemaligen Mentor vor lauter Verlegenheit kaum in die Augen sehen konnte.
    Es kam noch schlimmer. In der ersten Oktoberwoche stand er am Querschiff, wo die großen Pfeiler aus Purbeck-Marmor zum Turm emporragten, als

Weitere Kostenlose Bücher