Sarum
Ferne zu erstrecken schienen, nicht nur die luftigen Querschiffe, die die Kirchenmitte in Licht tauchten – es war die Tatsache, daß der gesamte Innenraum ausgemalt war, denn die gotischen Kathedralen der mittelalterlichen Welt boten einen farbenfrohen Anblick. Gewölbe, Pfeiler, Bauplastik und die Gräber in den Votivkapellen leuchteten in Blau, Rot und Grün. Das erinnerte an das lebendige Kunterbunt des Marktplatzes; das steinerne bemalte Blattwerk war so üppig wie das wirkliche im Avon-Tal. Als der Junge staunend die Reihe der schlanken Pfeiler entlangsah, rief er: »Das sieht ja aus wie ein Wald.«
»Jetzt zeige ich dir die Skulpturen«, sagte der Vater. Da gab es viele zu sehen: die auf der großen steinernen Schranke, die das Schiff von dem langen Chorhaus dahinter trennte, wo die Messen gesungen wurden. In der Chorschranke standen in einer Reihe quer durch die Kirche die hoheitsvollen Gestalten der Könige von England, wunderbar in Rot, Blau und Gold gefaßt, vom Sachsen Egbert bis zum damaligen Heinrich III. Osmund deutete hinauf zu den bunten Blattknäufen im Chorgewölbe und führte den Jungen ans Ostende des Schiffes, wo die Maler auf einem hohen Gerüst mit dem letzten Teil des Gewölbes beschäftigt waren. Dann zeigte er ihm die massiven übereinandergestellten Stützpfeiler der drei Arkadenreihen, die hinauf ins Gewölbe ragten. Er führte ihn zu der Vierung, wo das Auge die enormen Pfeiler hinaufglitt, die hier nicht dreifach, sondern in einer einzigen, klaren, ungebrochenen Linie ins Vierungsgewölbe aufstiegen.
Für den Steinmetz war jedoch ein anderes Detail – vielleicht weniger wichtig und nicht leicht zu entdecken – das Beste in der ganzen Kirche. Es waren die skulptierten Köpfe, auf die er selbst spezialisiert war, seit er die Figur von Bartholomew zwanzig Jahre zuvor gemeißelt hatte. Sie blickten in herrlich leuchtenden Farben von überall herab: von der Chorschranke, von den Seitenschiffen und von den Arkaden der Empore. Doch die schönsten von allen waren die ganz hoch oben über den Säulenschäften, wo die breiten Gewölberippen aufstiegen, um die Decke zu stützen, so hoch, daß man schon genau hinsehen mußte, wenn man sie entdecken wollte.
»Die da oben sind die besten«, sagte der Steinmetz ganz aufgeregt. »Es gibt siebenundfünfzig in den Gewölben. Immer kamen neue hinzu.«
»Und wie viele hast du gemacht?« fragte Edward. »Acht«, antwortete der Vater stolz, »keiner hat mehr geschaffen.«
»Aber werde ich hier arbeiten?« fragte der Junge zweifelnd. »Die Kirche ist doch fast fertig.«
Osmund lächelte. »Da gibt es noch viel zu tun«, versicherte er. Dann führte er ihn durch eine Seitentür, wo an der Südseite des Langhauses auf der anderen Seite der Steinmetzunterkunft ein geräumiger Kreuzgang lag. Im Anschluß daran standen die fast vollendeten Mauern eines achteckigen Gebäudes.
»Das wird der Kapitelsaal«, sagte Osmund, »wo die Domherren und die Diakone ihre Versammlungen abhalten. Sie möchten einen schönen Saal mit vielen Skulpturen. Später wird wahrscheinlich der Turm noch erhöht.« Sein Gesicht leuchtete bei dem Gedanken daran. »Dann sollen Schulen, weitere Häuser für die Domherren, Krankenhäuser gebaut werden…« Er breitete seine kleinen Hände weit aus: »Es gibt Arbeit für Generationen von Steinmetzen in Salisbury.«
Als Osmund zu seiner Werkbank zurückkehrte, sah er das Mädchen. Anfangs zog sie seine Aufmerksamkeit nicht sonderlich auf sich: ein kleines, blondes, etwa vierzehnjähriges Kind, das lautlos durch das Kirchenschiff auf den Kreuzgang zuging. Er dachte nicht weiter darüber nach, bis er das Mädchen eine halbe Stunde später zurückkommen sah. Als er sich erkundigte, wer das sei, sagte ein Steinmetz: »Das ist Bartholomews Tochter. Sie und ihre Mutter sind kürzlich von Bemerton hierhergezogen.«
Das erklärte, warum er sie vorher nie gesehen hatte. Er wunderte sich, daß dieses blonde Kind zu dem großen, dunklen Bartholomew gehörte. Sein alter Gegner und er begegneten einander mit distanzierter Höflichkeit. Sein früherer Mentor hatte nie versucht, ein Figurenbildhauer zu werden, doch seine gewissenhafte, wenn auch nicht sehr originelle Arbeit hatte ihm einige Achtung in der Zunft eingebracht, und er hatte nun die Aufsicht über die Steinmetzen im Kreuzgang.
Eine Woche später sah er das Mädchen noch einmal. Diesmal schlich sie am Westtor herum, wahrscheinlich wartete sie auf ihren Vater. Nach einer Weile schlenderte
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