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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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mit ernstem Gesicht, doch sein Herz war voller Freude. Er war noch mehr angetan, als Robert ihm ein paar Tage später in einem Gespräch nähere Anweisungen gab. Er zeigte ihm zwei schön illustrierte Manuskripte, einen Psalter und ein Epos mit weichen, ausdrucksstarken Zeichnungen, sauber in die unregelmäßigen Zwischenräume um den Text herumgesetzt.
    »Könntet Ihr etwas Ähnliches zuwege bringen?« Osmund zitterte vor Aufregung: Was da von ihm verlangt wurde, waren nicht die üblichen statischen Figuren und Köpfe, die er schon so vollendet geschaffen hatte, sondern weich fließende Bilder in Stein, voller Bewegung und Leben. Das überstieg alles, was er bisher versucht hatte, und er spürte, daß er es mehr als alles auf der Welt versuchen wollte. »Gebt mir ein paar Wochen«, sagte er, »und ich schaffe es.« Den ganzen Sommer über arbeitete Osmund am Entwurf. Er machte Skizzen von jeder Szene. Er übte Tag für Tag an der Vervollkommnung der lebendig fließenden Linien, die er sich vorstellte. Er machte von sechs Szenen sogar Probestücke aus weichen Kalkblöcken, um sie den Domherren zu zeigen.
    Während seine beiden Mitarbeiter rasch mit den Statuen der Tugenden und Laster vorankamen, brachte er anscheinend nichts zustande, was ihn wirklich befriedigte. Jedesmal, wenn Robert nach den Entwürfen fragte, vertröstete er ihn, bis der Meistersteinmetz ihn Ende Juli ermahnte: »Die Domherren werden allmählich ungeduldig, Osmund. Wenn Ihr keine Entwürfe liefern könnt, muß ich die Arbeit einem anderen übertragen.«
    »Nur noch einen Monat«, bat der nach Vollkommenheit strebende Steinmetz.
    Und voller Eifer machte er sich wieder an die Arbeit. Tagelang dachte er an nichts anderes, nahm kaum die übrigen Steinmetzen oder seine Familie wahr, während er wie betäubt zur Arbeit ging und zurückkehrte. Mitunter hatte er das Gefühl, er sähe sie vor sich, alle sechzig Szenen, doch wenn er versuchte zu zeichnen, was er sah, löste die Vision sich geheimnisvoll auf. So etwas war ihm noch nie zuvor geschehen, und er hatte keine Erklärung dafür.
    An einem heißen Morgen im August war er auf dem Weg von Avonsford in die neue Stadt. Er befand sich in einer unguten Gemütsverfassung. Er nahm an diesem Tag statt der oberen Straße einen kleinen Pfad am Fluß in der Hoffnung, daß vielleicht das kühle Wasser und die majestätischen Schwäne seinen unsteten Geist beruhigen würden. Während er gedankenverloren dahinging, hörte er vor sich Kinderstimmen lachen und rufen. Es gab da an einer Flußbiegung eine Stelle mit ruhigem Wasser, wo die Kinder aus dem nahe gelegenen Dorf schwammen und spielten. Ohne zu überlegen, ging Osmund darauf zu. Er kam zu einem Schilfbüschel neben dem Pfad, und dahinter entdeckte er die Kinder. Etwa ein halbes Dutzend planschte fröhlich im Wasser. Osmund blieb stehen und starrte hinüber.
    In ebendiesem Augenblick sah er Bartholomews Tochter, wie sie aus dem Wasser ans Ufer glitt.
    Sie war nackt wie die anderen Kinder. Ihr Körper war so, wie er ihn sich vorgestellt hatte: Die kleinen Brüste, die sanft gerundeten Hüften waren so Vollender geformt wie bei den griechischen Statuen, die er in Winchester gesehen hatte. Das Wasser tropfte von ihrer blassen makellosen Haut, und ihr Haar, jetzt von dunkelrötlichem Gold, hing in glänzend nassen Strähnen über ihren Rücken. Sie wandte sich um, blickte zu dem Schilfbüschel hin und schien zu lächeln. Konnte sie ihn sehen? Er glaubte es nicht, aber selbst wenn es so war, hätte er sich nicht von der Stelle rühren können. Er stand wie gelähmt.
    Sie drehte sich im Sonnenlicht, lachte über irgend etwas und lief zu ihren Kleidern.
    Zutiefst verwirrt von dem Gesehenen und errötend bei dem Gedanken, sie hätte ihn vielleicht entdeckt, ihn, den würdigen Meister, der wie ein Junge durchs Schilf spähte, stolperte Osmund den Pfad zurück und nahm eine Abkürzung zur oberen Straße.
    Als er die Straße erreichte, hatte er den Zwischenfall bereits vergessen – er glaubte es zumindest. Doch das Unglück war geschehen. Er mochte noch so sehr versuchen, die quälende Vision des Mädchens zu unterdrücken – sie wollte ihm nicht aus dem Sinn.
    Nicht nur der Gedanke an ihren Körper, auch die Vorstellung, sie könnte ihn bemerkt haben, raubte ihm fast den Verstand. Als er sie eine Woche später wieder am Westeingang der Kathedrale sah, fühlte er sich gedrängt, mit ihr zu sprechen.
    Langsam ging er auf sie zu und versuchte würdevoll und

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