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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Laiengerichtsbarkeit. »Jetzt gehört England uns«, sagte Edward Wilson zu seinen Kindern. Es war ein kühner, aber durchaus begründeter Ausspruch. Wenige Menschen verstanden die Welt besser als Edward Wilson. Dennoch überraschten ihn die Ereignisse des Jahres 1381. Und beim Gedanken an jenen unglaublichen Menschen, der das Drama ausgelöst hatte, und an die seltsame Rolle, die er persönlich dabei gespielt hatte, war er immer noch höchst amüsiert.
    Es war niemand anderer als Stephen Shockleys Sohn Martin, der den Aufruhr verursachte.
    Der Bürger war immer besonders stolz darauf gewesen, daß sein Sohn, wenn auch kein Priester, so doch ein Studierender werden würde. Das war nicht unüblich: Obwohl die Landadeligen und die Magnaten normalerweise nicht besonders bildungshungrig waren, gab es viele Söhne von Kaufleuten und selbst von armen Leuten auf den englischen Colleges, falls sie einen Gönner fanden. Stephen war so fest entschlossen, das Beste in dieser Hinsicht zu tun, daß er seinen Sohn auf die Universität von Oxford schickte, weil er gesehen hatte, wie die Colleges in Salisbury allmählich an Niveau verloren.
    »Verdammt, Wilson«, klagte er später, »ich wünschte, ich hätte das nicht getan.«
    Denn in Oxford hörte Martin Shockley die Vorlesungen von John Wyclif. Der große Vorläufer der protestantischen Reformation war keine Heldenfigur. Er war ein schüchterner, übellauniger Akademiker, der als Kleriker Einkünfte aus mehreren Pfründen bezog, die er selten besuchte. Wenn er jedoch herausgefordert wurde, bewies er eine unbeugsame Härte.
    Ausgehend von der philosophischen Ansicht, daß der Mensch Gott direkt erfahren kann und nicht blind dem Dogma der Kirche folgen muß, predigte er alsbald absolut subversive Lehren.
    Er entwickelte seine sogenannte Theorie der Herrschaft: Nur die Guten, nicht aber die Bösen, sollten regieren oder Land besitzen. Die maßgeblichen Institutionen liefen Sturm. Prompt ging er noch weiter und verkündete, daß der Papst, wenn er zu weltlich wurde, abgesetzt werden sollte. Im Jahre 1379 hatte er bereits öffentlich geleugnet, daß Brot und Wein in der Messe in Christi Leib und Blut verwandelt würden; und, schlimmer noch, er hatte gefordert, daß die Bibel ins Englische übersetzt werden sollte, damit gewöhnliche Menschen das Wort Gottes unmittelbar empfangen könnten.
    Man war vor allem empört, daß die als Lollarden bekannten Anhänger Wyclifs die Macht des Priesters leugneten, Gott gegenwärtig zu machen. Und man lehnte ihre Lesung von Bibelübersetzungen ab, die sie als subversiv entlarvten. Dennoch hatten diese Leute sogar Freunde in hohen Stellungen – Magnaten und andere vornehme Herren, denen sehr daran gelegen war, die Macht der Kirche zu schwächen. An Rom gingen Gelder, die der König und sein Parlament lieber in den Händen des Schatzmeisters gesehen hätten. Dieser Wyclif, der die Macht des Papstes leugnete, konnte eine nützliche Waffe sein. Daher unterstützte und protegierte der große John of Gaunt, Bruder des Schwarzen Prinzen und Onkel des neuen Königs Richard II. den widerspenstigen Gelehrten.
    In Oxford tobten mittlerweile die Debatten. Einem jungen Idealisten wie Martin Shockley stiegen Wyclifs Vorlesungen nicht nur zu Kopfe, sie waren für ihn der Beginn einer neuen Welt.
    An einem ungewöhnlich kühlen Tag im Mai ging die ganze Familie der Shockleys in die Kathedrale, um die Rückkehr ihres Sohnes Martin aus Oxford zu feiern.
    Es war eine beschauliche Familienszene: Stephen, ein wohlangesehener Kaufmann in rüstigem Alter, seine freundliche Frau Cecilia und ihre fünf Kinder; Martin war mit seinen zwanzig Jahren der Älteste. Stephen war stolz und froh, daß sein Sohn endlich wieder zu Hause war. »Es wird Zeit, daß er im Geschäft mitarbeitet«, sagte er zu seiner Frau. Die Familie saß, in schwere Umhänge gehüllt, in der Kirche, und die Priester gingen zur Morgenmesse nach vorn. Es waren nur etwa dreißig Gläubige versammelt.
    Die Familie hatte Martin schon länger nicht mehr gesehen, und seine Geschwister warfen ihm verstohlene Blicke zu. Er war ein hübscher junger Mann mit dem üppigen braunen Haar seiner Mutter, der schlanken Statur und den strahlendblauen Augen seines Vaters. Er war spät am Vorabend angekommen, und abgesehen von einer kurzen Unterhaltung war vor der Nachtruhe kaum gesprochen worden. Cecilia hatte eine leicht nervöse Anspannung bei ihm bemerkt und war etwas beunruhigt, aber als Stephen gutgelaunt neben ihr

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