Sarum
entweder in Frances’ Begleitung oder auch ohne sie, doch immer in öffentlichen Anlagen, meist auf dem Kathedralgelände. Wenn er Frances allein antraf, fragte er mitunter, ob Porteus sich inzwischen wieder beruhigt habe.
»Leider noch nicht, Doktor«, war die steife Antwort, und er konnte nicht feststellen, was Frances wirklich über diese Angelegenheit dachte. Der nächste Hinweis kam Anfang des Jahres 1805, als sie eines Tages mit abgewandtem Blick bemerkte: »Mein Mann ist genau wie Mr. Pitt, Doktor. Seine Leidenschaft ist groß, doch sie gehört seinem Land.«
»Ich glaube, Euer Bruder ist auch ein Mann voller Leidenschaft«, antwortete er.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Ralph begeistert sich rasch, aber das geht ebenso rasch vorüber. Es ist keine echte Leidenschaft.« Die Leidenschaft des Thaddeus Barnikel für Agnes war nach außen hin nicht erkennbar, doch unterschwellig brannte sie so beständig wie ein Holzkohlenfeuer.
Wenn ich ganz ehrlich bin, gestand er sich ein, bedeutet sie mir mehr als mein Leben.
Ralph schrieb häufig, normalerweise an Agnes, ein- oder zweimal an Mason.
Er berichtete Mason über seinen Besuch in der Baumwollfabrik und erhielt eine deprimierende Antwort:
Die schrecklichen Maschinen, von denen Du berichtest, sind kaum in Wiltshire zu finden, und sie haben wohl auch keine Zukunft in Salisbury.
Unsere eigene Tuchindustrie schleppt sich so dahin. Zwei arme Weber wurden vergangenen Monat arbeitslos. Es ist traurig, mit ansehen zu müssen, wie der alte Tuchhandel in Sarum allmählich dem Ende zugeht.
An Agnes schrieb Ralph zärtliche Briefe, und er meinte, daß seine Rückkehr sich nicht mehr allzu lange hinauszögern werde. Neben seiner Arbeit als Hauslehrer war er nicht untätig. Das Entsetzen über das, was er in der Spinnerei gesehen hatte, zog ihn immer wieder in die Stadt zurück. An seinen freien Tagen ritt er dorthin, besichtigte auch den dahinterliegenden Hafen. Bald fand er heraus, daß Lord Forest die Wahrheit gesagt hatte – es gab noch viel schlimmere Fabriken als die seine.
Am fürchterlichsten aber fand er die Bergwerke, wo die kostbare Kohle zum Heizen der großen Maschinen gefördert wurde. Es ist die Hölle selbst, dachte er. An Mason schrieb er:
Ich habe Bergwerke von etwa hundert Meter Tiefe gesehen, von Kerzenlicht erhellt. Man gilt dort als sicher, bis die Gase die Kerzen auslöschen. Sicher, das heißt, solange es da unten keine Explosion gibt. Kürzlich war ich dabei, wie sie die Leichen herausgezerrt haben, als handle es sich um Ratten, die in ihren Löchern von Terriern totgebissen wurden. Schrecklicher noch als die Toten sind die Lebenden dran. In manchen Bergwerken müssen kleine Jungen die unterirdischen Bewetterungsschotten öffnen und schließen, und ich habe kleine Mädchen gesehen, die, angeschirrt wie Mulis, täglich zehn Stunden lang Körbe mit Kohle die Leitern hinaufschleppen müssen. Gestern sah ich in einer dieser grauenvollen Minen eine Kreatur aus dem Stollen kriechen, die ich für einen kleinen schwarzen Hund hielt. Aus der Nähe stellte sich heraus, daß es ein Kind war, das von seinen Eltern zur Arbeit unter Tage geschickt wurde. Es war sage und schreibe vier Jahre alt.
Wir haben zwar auch Armut in Sarum, aber so etwas haben wir, Gott sei Dank, nicht.
Der Widerstand von Kanonikus Porteus gegen Ralphs Rückkehr überraschte jedermann. Es war unfaßbar.
»Das Verteufelte ist«, bekannte Barnikel, nachdem ein Jahr vergangen war, »daß Porteus nur Unruhe in der Schule und auf unserem Gelände stiften wird, um Ralphs Position hier unhaltbar zu machen. Entweder kehrt er mit Porteus’ Segen zurück oder gar nicht.« Er hoffte, daß der Sieg von Trafalgar, den die Stadt gebührend feierte, einen Sinneswandel herbeiführen würde, doch der Schatten der französischen Siege bei Ulm und Austerlitz und Pitts Tod machten den Kanonikus noch mürrischer und die Einstellung der Stadtbewohner noch vorsichtiger als bisher.
Gegen Ende des Sommers 1806 kam Ralph zu einem neuen Entschluß. Er schrieb an Agnes:
Da sich anscheinend durch die Rachsucht des Kanonikus ganz Sarum gegen mich gestellt hat, bat ich Lord Forest, mir bei der Suche nach einem Posten irgendwo sonst behilflich zu sein, wenn möglich in London, wo es viele Schulen gibt und wo ich wieder mit meiner Frau Zusammensein könnte. Er hat mir zugesagt, wenn ich seine beiden Söhne noch bis zum nächsten Sommer unterrichte, mir für nächsten September eine gute Stellung mit einem
Weitere Kostenlose Bücher