Sarum
unserer Königin und dem Prinzgemahl in England vor drei Jahren.
Die Expedition verlief ohne Malaria oder sonstige Krankheiten. Leider ist dies von Deinem Onkel nicht zu berichten. Ich fürchte, meine Gesundheit verschlechtert sich zusehends, und ich kann nicht länger hier verweilen. Tatsächlich haben Crowthers Berichte über England in mir den brennenden Wunsch geweckt, meine Heimat noch einmal zu sehen.
Die Nachricht vom Hinscheiden Deiner lieben Mutter tat mir von Herzen leid. Doch Gottes Wille geht geheimnisvolle Wege. Welch ein Segen, daß Du nun in unserem alten Haus in Sarum lebst, wo, so hoffe ich, Du in allernächster Zukunft Deinen Dich liebenden Onkel Stephen zu begrüßen das Vergnügen haben wirst. PS: Ich habe vor, das nächste Postschiff zu nehmen, das, wie ich höre, schon demnächst in See stechen wird.
Jane starrte ungläubig auf das Blatt. Ihr Onkel, der fromme Missionar, den sie so verehrte, kam nach Sarum – und sie sollte ihm das Haus führen, darüber bestand kein Zweifel; allem Anschein nach auch nicht über ihre Pflichten. Später an jenem Tag, als sie auf die Geleise am Bahnhof von Milford blickte, hatte sie den Eindruck, daß sie zu einer einzigen Schiene wurden und sie aussperrten.
Nicht Krankenpflege. Nicht Indien. Jedenfalls vorerst nicht. Doch irgendwann würde sie frei sein.
1861
Jane Shockleys Passion kam zum Ausbruch, als sie dreißig war. Sie stand auf den Stufen des Zunfthauses, einem ausladenden Gebäude an der Ostseite des Marktes, das Lord Radnor, wie auch das Krankenhaus, der Stadt gestiftet hatte. Die strengen Formen vermittelten dem Betrachter eine gewisse Seriosität, die in Sarums Geschäftsleben zwar eigentlich notwendig, doch normalerweise nicht vorhanden war. Der kleine untersetzte Mann neben ihr schüttelte traurig den großen Kopf. »Moral, nicht materiellen Fortschritt brauchen wir jetzt in Sarum, Miss Shockley.«
Sie nickte. Natürlich, so war es. Und wenn überhaupt jemand dafür sorgte, war es Mr. Daniel Mason, ein Methodist und begeisterter Temperenzler. Sie blickte ihn liebevoll an.
»Ich bekehre Euch noch zur Temperenz, Miss Shockley«, behauptete er gutgelaunt.
Es waren tatsächlich nicht nur die Nonkonformisten – die Wesley-Anhänger, Baptisten, Kongregationalisten und andere neben den nun tolerierten Katholiken, von denen es in Sarum viele gab –, die das wichtige Anliegen der Temperenzler zu ihrem eigenen machten. Zwei Jahre zuvor, als Mr. Gough, der Temperenz-Prediger, nach Salisbury gekommen war, hatten sich nicht weniger als fünfzehnhundert Menschen – Angehörige aller Glaubensbekenntnisse und Gesellschaftsschichten – in der Markthalle gedrängt. »Viele anglikanische Geistliche in den Pfarrgemeinden sind besorgt wegen des Alkoholproblems«, versicherte Mason. Evangelikaie wie der bedeutende Shaftesbury mit seiner Reform der Arbeitsbedingungen in Fabriken und des Gesundheitswesens, Aristokraten und Römisch-Katholische, alle, das wußte Jane, waren gleichermaßen bestrebt, in dieser neuen Ära des Fortschritts auf moralisch sicherem Grund zu stehen. Florence Nightingale hatte Königin Viktoria Mr. Lees Traktat über die Prohibition höchstpersönlich vorgelesen. »Reform ist niemals einfach«, fuhr Mason fort, als er auf dem Marktplatz umherblickte. »Seht Euch das dort an!«
Er deutete auf einen offensichtlich betrunkenen Mann mit zwei armseligen Kindern. »Ekelhaft«, stimmte sie zu.
Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Ihr seid doch auch der Ansicht, daß in einem solchen Fall Temperenz notwendig ist?«
»Ganz gewiß.«
»Also kommt, Miss Shockley«, sagte er siegessicher, »Ihr sollt sie kennenlernen.«
Dienstags war Markttag. Ein Sommer ohne Höhepunkte ging seinem Ende zu. Es war später Nachmittag. Ein Hauch von Trägheit lag in der Luft.
In der Mitte des Marktplatzes waren lethargische Rinder an einer Stange festgebunden; daneben drängten sich Schafe in sechs Hürden. Überall standen ausgespannte Karren kreuz und quer, manche mit einer Plane, andere mit Sprossenwänden. Fuhrleute in Arbeitskitteln, Männer mit Gamaschen und offenen Hemden, Bauern in weiten Mänteln und Zylindern; hier und da eine Frau im Reifrock. Alle bewegten sich mit einer gleichsam traumwandlerischen Langsamkeit auf dem großen staubigen Platz. Die Luft trug bekannte Gerüche herüber – nach Vieh, Kuhfladen, Zuckerkringeln, nach den beliebten, auf dem Blech gebackenen Pfefferkuchen. Jane nahm auch den leichten Geruch des starken Wiltshire-Bieres
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