Sarum
wahr, dem überall reichlich zugesprochen wurde. So war ihr der Markt seit jeher vertraut, aber seit kurzem gab es da eine ganz große Veränderung: An der Westseite, hinter dem alten Käsemarkt bei der St.-Thomas-Kirche, stand ein neues Gebäude. Es hatte drei römische Bogen in der großen Fassade und einen klassischen Steingiebel. Das war die neue Markthalle, und es war auch ein Bahnhof. In den vergangenen fünf Jahren war Salisbury endlich ein Eisenbahnknotenpunkt geworden. Die Londoner und die Südwest-Linie nach Southampton, die Strecke Andover-London, die Wiltshire-, Somerset- und Weymouths-Linie – Teil des weitgespannten westlichen Breitspurnetzes –, alle kamen in dem hübschen neuen Bahnhof in Fisherton zusammen. Die Züge fuhren unter Getöse und Gezische ein und aus. Die Stadt wuchs, denn es kamen immer mehr Besucher, und oft blieben sie auch für immer, angezogen von dem traditionsreichen Charme dieser Stadt.
Doch der uralte Pulsschlag der fünf stillen Täler, ihre zahllosen Weiler und die welligen Kreidekämme mit ihren Schafherden – all dies, den sanften Rhythmus der Sarumer Markttage aufnehmend, veränderte sich kaum. Wie die römischen Straßen vorher waren die neuen Schienenstränge nur über ein von alters her unveränderbares Muster gelegt. Wieder wurde Sarum zu einem Mittelpunkt mit Markt und religiösen Aktivitäten an dem natürlichen Sammelpunkt des welligen Hochlands.
Jane sah sich nun den dreien gegenüber: dem Vater, dem Mädchen von etwa sechs Jahren und einem Jungen, der vielleicht zwei Jahre jünger war.
Das Mädchen trug ein fadenscheiniges bedrucktes Kattunkleid mit einem Riß am Rücken, dazu alte Strümpfe, einen weißen und einen grauen. Die braunen Schuhe waren an den Zehen aufgeplatzt. Ein langer Wollschal mit Fransen war um ihre Schultern geschlungen und hing bis auf den Boden. Der Junge sah noch verwahrloster aus: zerfetztes Hemd, Baumwollhosen mit aufgesetzten Flicken, barfuß. Er aß eine Orange, und sein ganzes Gesicht war verschmiert. Die beiden saßen hinten auf einem Karren und blickten teilnahmslos auf die Welt um sie her. Im Karren lag ein etwa vierzigjähriger Mann. Er lehnte gegen einen Strohballen und schlief offenbar.
»Das ist mein schlimmster Fall«, erklärte Mason. »Die Mutter ist kürzlich gestorben. Zwei Kinder. Ob Ihr’s glaubt oder nicht – der Mann ist Landwirt.« Er zeigte auf die schlafende Gestalt mit dem unordentlich gebundenen Halstuch und dem unrasierten Gesicht, die jetzt gerade langsam die Augen öffnete. »Jethro Wilson.«
Der Mann blickte ruhig von dem entschlossenen Methodisten zu der jungen Dame an seiner Seite. »Ihr wollt mich wohl vom Alkohol wegbringen?« Erstaunlich behende erhob er sich.
Er muß einmal gut ausgesehen haben, dachte Jane. Sein schmutziges, glanzloses langes Haar war sicher einmal genauso tiefbraun gewesen wie seine Koteletten. Sein großer, schlanker Körper, sein Raubvogelgesicht ließen Kraft ahnen. War es Faulheit, Alkohol oder Verachtung für die Welt, daß er sich nicht mehr um seinen Hof kümmerte? Er sah seine Kinder an und bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, schnell anzuschirren.
»Ihr habt getrunken«, sagte Mason vorwurfsvoll. »Nur ein paar Gläschen. Habe den Rausch schon ausgeschlafen.«
»Eure Kinder sind völlig verwahrlost, Mann. Ihr wißt das. Ich bitte Euch, wenn Ihr Euch schon nicht um Euch selbst kümmert, dann wenigstens um die Kinder.«
»Was würdet Ihr denn für sie tun?«
»Vieles. Sie in die Schule schicken, sie etwas von Gott lehren.«
»Sie wissen Bescheid über das Land.«
»Das ist nicht genug.«
»Kann schon sein.«
»Wir sprechen uns wieder.«
»Schon möglich.«
Der Karren war angespannt. Die beiden Kinder kletterten hinein. Der Mann setzte einen breitkrempigen Hut auf, dann gab er dem Pony einen leichten Schlag mit der Peitsche, und sie holperten davon. Nach ein paar Metern drehte er sich um, sah Jane genau an und lüftete seinen Hut. »Schamloser Strolch«, murmelte Mason, und zu Jane gewandt meinte er: »Wenn Ihr mir helfen würdet, ihn zu bessern oder wenigstens diese Kinder zu retten, Miss Shockley, wäre das all Eure Mühen wert.«
In den vergangenen Jahren hatten Jane und Mason oft miteinander gearbeitet. In Sarum gab es, weiß Gott, genügend arme Seelen, derer man sich annehmen mußte.
»Miss Shockley ist eine höchst ungewöhnliche Person«, sagte Mason oft zu seiner Familie.
Das war sie in der Tat. Sie unterrichtete in der Schule, obwohl sie es
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